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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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drei?«
    »Alice.«
    Es war das erste Mal, dass Johann Isidor mit seinem zweiten Sohn, der seit zwei Jahren sein einziger war, einen Scherz wagte. Ihm fiel es auf, als sie beide zu gleicher Zeit lachten. Sie gingen, obgleich Erwin sich mit zwei Freunden aus der Gruppe verabredet hatte, um über Dinge zu sprechen, von denen Sechzehnjährige nicht wissen durften, dass es sie gab, gemeinsam nach Hause. Weil sie noch nicht gelernt hatten, miteinander zu reden, ohne dass der Vater die Regie übernahm, sprachen sie wenig. Sobald sie einander jedoch anschauten, spürten sie eine innere Wärme, die sie vorher noch nicht einmal erahnt hatten. Die Luft roch schon nach dem Schnee, der bald fallen würde. Wasserlachen waren zugefroren und spiegelglatt. Der Weg war mühsam, doch als der eine ausrutschte und vor dem Fallen bewahrt wurde, war es der Vater, der den Sohn in seinen Armen hielt.
    »Donnerwetter«, sagte Erwin.
    »Ist das der moderne Ersatz für danke?«
    »Viel, viel mehr.«
    Sie kamen einander nur in kleinen Schritten näher. In der ersten Zeit nach der überraschenden Begegnung bei der Protestversammlung beschränkten sie sich auf Blicke und auf angedeutete, nur von ihnen bemerkte Gesten, wenn vom Krieg, den Durchhalteparolen und den Niederlagen die Rede war. Ende November kam aus Wien die Nachricht, dass der greise Kaiser Franz Joseph gestorben war und dass sein Nachfolger Karl sich um Frieden bemühen wollte. Als Johann Isidor das beim Abendessen seiner Frau erzählte, schloss er den Bericht mit dem Kommentar: »Das ist der Anfang vom Ende.«
    Sein Sohn sagte: »Hoffentlich.« Beide schauten einander an, und nicht nur sie rätselten, was mit ihnen geschehen war.
    Betsy begriff erst im März 1917 den tatsächlichen Umfang der Wahrheit. Als dies geschah, stand sie im Arbeitszimmer ihres Mannes. Sie hielt ein Staubtuch in der Hand und war am Grübeln, ob erfrorene Karotten so übel schmeckten wie erfrorene Kartoffeln, wobei sie gleichzeitig ein winziges Spinnennetz von der Längswand entfernen wollte. Da bemerkte sie die gravierende Veränderung. Die berühmte Balkonrede des deutschen Kaisers war verschwunden. Stattdessen befand sich in dem silbernen Rahmen ein Gedicht von einer Henriette Fürth, von der sie noch nie gehört hatte. Schon wegen der Überschrift »Judenzählung« las Betsy jedes Wort der drei Verse. In dem zweiten hieß es:
»Nun zählt ihr uns. Wir wollen’s nicht ertragen. Was taten wir, dass man uns das getan? Wie durftet ihr nach dem Bekenntnis fragen? Wir fragten nicht in jenen hohen Tagen: Fürs Vaterland ward’s ungefragt getan.«
    Diesmal war es nicht der Sekretär mit der schönen klaren Handschrift aus der Posamenterie Sternberg, der den Text abgeschrieben hatte. Es war, wie die verblüffte Mutter erkannte, ihr Sohn Erwin. Er war es auch gewesen, der das Gedicht der mutigen SPD-Politikerin Henriette Fürth entdeckt und seinem Vater auf den Schreibtisch gelegt hatte.
    Da hatte Johann Isidor Sternberg bereits seinen eigenen Weg bestimmt. Ein Patriot würde er sein Leben lang bleiben, denn ihm reichte die eine Enttäuschung nicht, um seine Liebe zu Deutschland zu Grabe zu tragen. Dem Land aber, das er auch künftig zu lieben entschlossen war, vertraute er nicht mehr. Wenn sich nun seine Augen mit Tränen füllten, so weinte er nicht mehr um des Kaisers Soldaten, die auf dem Feld der Ehre ihr junges Leben gelassen hatten, er weinte nur noch um den eigenen Sohn. Ab dem Tag, da er begriffen hatte, was die Judenzählung für die Juden in Deutschland bedeutete, betete er, Gott möge den Krieg beenden, ehe Erwin zum Militär musste.
    Den gesetzestreuen, gehorsamen Staatsbürger Sternberg drängte es nicht mehr, seine Kraft für ein Land einzusetzen, das sich so bereitwillig der Hetze der Antisemiten ergeben hatte. Seine Familie war ihm wichtiger als dieses Vaterland. Er fragte sich oft, weshalb er sechsundfünfzig Jahre zu dieser Erkenntnis gebraucht hatte. Einmal fragte er Erwin.
    »Wahrscheinlich weil du nicht so einen Vater gehabt hast wie ich«, wusste der Nachdenkliche, »einer, der bereit war, seine Fehler zuzugeben.«
    »Danke«, sagte Johann Isidor.
    »Für die Wahrheit dankt man nicht, sagt unser Lehrer.«
    »In der Schule?«
    »In der Gruppe. In der Schule sagen sie immer noch, dass es süß ist, für das Vaterland zu sterben.«
    Je schlimmer die Not in Deutschland wurde, je größer die Katastrophen des Alltags, desto mehr handelte Johann Isidor auf den illegalen Märkten. Er sorgte sich
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