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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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geschätzt.« Er selbst, schrieb er, müsse wahrscheinlich bald zum Militär. Seine Zurückstellung wegen Arbeit in einem kriegswichtigen Betrieb laufe Ende des Monats aus. »Sollte es Ihnen nicht möglich sein«, schrieb Meister Anton, »für Ihr Kind zu sorgen, sehe ich mich leider gezwungen, die kleine Anna ins Waisenhaus zu verbringen. Anders geht es nicht. Überlegen Sie sich das Ganze in Ruhe. Das Kind wird erst in zwei Tagen hier abgeholt. Sie brauchen auch keine Angst nicht zu haben, Anna in Ihr wertes Haus einzuführen. Die Fritzi hat keine ansteckende Krankheit gehabt. Nur eine Blutvergiftung. Sie wollte nicht zum Arzt. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie zu den Kosten für das Begräbnis der teuren Verblichenen beitragen könnten. Auch der Herr Pastor sollte eine Zuwendung bekommen. Er hat sich viel Mühe auf dem Friedhof gegeben. Ein Maler in einem kriegswichtigen Betrieb verdient zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben.«
    Zwei Stunden lang saß Johann Isidor Sternberg bewegungslos hinter seinem Schreibtisch. Sein Gesicht war zu einer Maske gefroren, der Hemdkragen durchgeschwitzt. Immer wieder starrte er auf das frisch gewachste Parkett und wartete auf den Moment, da der Boden sich öffnen und den Weg zur Hölle freigeben würde. Er las den Brief, bis er ihn auswendig hätte aufsagen können, hielt ihn einmal dicht an sein Gesicht und hörte Fritzi lachen. Oder war es der Duft ihrer Lavendelseife, der ihn quälte? Er fühlte, dass ihn bald ein körperlicher Zusammenbruch lähmen oder ein barmherziges Feuer zu einem Gnom einschmelzen würde. Als die Lautlosigkeit ihn ertauben ließ und der Lavendelduft aus dem Zimmer schwand, sah er Betsy.
    Ihr Gesicht war eine giftgrüne Fratze; ihr Mann begriff sofort, dass sie ihm nie verzeihen würde. Wenn Betsy Sternberg geborene Strauß, die stolze, wohlhabende Juwelierstochter aus Pforzheim, wenn eine solche Frau erfuhr, dass er die Ehe gebrochen und sie betrogen hatte, würde er auf immer ihr Gefangener sein, ein Hampelmann mit einer Bleikugel am Bein, eine Marionette an einer Schnur.
    Johann Isidor hörte die Stimmen seiner Kinder – Kriegsgeschrei, das ihm die Sinne raubte. Victoria schnitt ihre Zöpfe mit einem Metzgermesser ab, Clara, sein Stolz in Schwesterntracht, riss ihre Haube vom Kopf und warf sie ihm vor die Füße. Wie ein Reiter, der sein lahmendes Pferd ermutigen will, klopfte ihm Erwin auf die Schulter. »Armer Papa«, tröstete der eben erst gefundene Vertraute und tätschelte seinen Kopf, als wäre er ein Schoßhund.
    »Nicht mit mir«, wehrte sich der überführte Sünder, »so weit sind wir noch nicht.«
    Er steckte den Brief des Anton Wallerstadt in seine Westentasche. Ein Mann von Ehre brauchte keine zwei Tage Bedenkzeit, um sich für die Anständigkeit und für sein eigen Fleisch und Blut zu entscheiden. Neunzig Minuten hatten gereicht, um ihm klarzumachen, dass eine Tochter von Johann Isidor Sternberg nicht in einem Waisenhaus aufwachsen durfte. Anna Haferkorn, der er eines Tages seinen Namen zu geben hoffte, gehörte in das Haus in der Rothschildallee 9.
    Mit schwarzer Tinte und auf Vorkriegspapier schrieb der redliche Handelsmann Sternberg an den honorigen Malermeister Wallerstadt. Er kondolierte ihm zu Fritzis Tod, dankte ihm für seine Fürsorglichkeit, sicherte ihm die Übernahme der Begräbniskosten und eine Spende für den Pastor zu. Abschließend teilte er ihm mit, er würde um vier Uhr nachmittags in der Textorstraße sein, um das Kind abzuholen. »Bitte packen Sie ihr alles ein, was sie mitnehmen will. Wenn möglich auch eine Fotografie von ihrer Mutter.«
    Dann ließ Johann Isidor den Boten kommen, den er immer in die Textorstraße geschickt hatte; er übergab ihm das Schreiben, das seine Ehe für immer belasten würde, zur umgehenden Ablieferung. Um halb vier machte er sich selbst auf den Weg. Die Nachmittagsluft war frisch und belebend, als er über die Alte Brücke ging. Auf einem Kohlenschlepper sonnte sich ein schwarz-weißer Hund. Johann Isidor nahm sich vor, im Sommer mit seinen Töchtern an den Main zu gehen. Noch musste er sie im Geiste zählen, um die Übersicht zu behalten.
    Anna stand vor dem Haus, in das ihr Vater immer mit tief heruntergezogenem Hut gekommen war, neben ihr ein alter brauner Lederkoffer, zugebunden mit einer goldenen Gardinenschnur aus der Posamenterie Sternberg in der Hasengasse. Johann Isidor war gerührt. Die Kordel erschien ihm wie eine Nabelschnur zu seiner Vergangenheit. Er wollte
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