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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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nicht länger würde ertragen können, und er seiner Frau eingestand, dass er nie wieder der Mann sein würde, der er gewesen war, weinte er zum zweiten Mal.
    »Ich glaube, du solltest mit den Unsrigen sprechen«, riet die Kluge, als sie das Schlafzimmerlicht löschte. Betsy Sternberg hatte noch nie »die Unsrigen« gesagt, doch sie durchschaute, weshalb sie es nun tat. Auch ihr Mann wusste Bescheid, obwohl er mit einem gutmütigen Tadel sagte: »Was ihr Frauen auch immer für Ideen habt.«
    Er befolgte Betsys Rat und nahm teil an einer Protestversammlung der Frankfurter Ortsgruppe des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Der Centralverein in Berlin hatte am 1. August 1914 den viel beachteten Aufruf erlassen: »Glaubensgenossen, wir rufen Euch auf, über das Maß der Pflicht hinaus Eure Kräfte dem Vaterland zu widmen. Eilet freiwillig zu den Fahnen.« Der, dessen Herz so stolz geschlagen hatte, als sein Sohn zu den Fahnen gestürmt war, saß nach vorn gebeugt und fröstelnd in einer Ecke des Raums. Ihm war es, als müsse er allein sich für das peinigende Thema des Abends rechtfertigen. Er hörte die Reden derer, die sehend geworden waren und nun gegen die infame Unterstellung protestierten, die Juden in Deutschland wären feige Drückeberger, doch er wusste nicht, wie er, Johann Isidor Sternberg, von seinem lebenslangen Traum Abschied nehmen sollte, ohne zu sterben. Wie einem Herzen, das nichts anderes gelernt hatte, als das Vaterland wie den leiblichen Vater zu lieben, die Liebe zu Deutschland entreißen?
    Der Beraubte fühlte, wie der Zorn ihn versengte, wie die Empörung seinen Glauben, die Hoffnung und die Liebe zu Tode würgte und ihn zu einem gebrochenen alten Mann machte, dem die Zukunft abhandengekommen war wie anderen Menschen ein Schal oder ein Taschentuch. Er dachte an den Kanonier Otto Wilhelm Samuel Sternberg, der achtzehn Jahre alt und keinen Monat älter geworden war und der nun zum zweiten Mal sterben musste. Diesmal hingerichtet vom Hass jener Landsleute, die den Juden vorwarfen, sie würden in der Stunde der Not ihr Vaterland nicht verteidigen und in der warmen Stube ihre Kriegsgewinne zählen.
    Johann Isidor schloss seine Augen. Trotzdem erschien ihm Ottos Bubengesicht, schon gezeichnet von der Männergier nach Bewährung – und der Angst eines Kindes vor dem Verlassenwerden. Der Vater sah seinen Ältesten am Ostbahnhof stehen, Ausschau haltend wie ein erfahrener Wanderer, der sich verirrt hat und der sich scheut, sich selbst einzugestehen, dass er vom Weg abgekommen ist. In der Klappe des lächerlichen Kindertornisters steckte ein schwarz-weiß-rotes Fähnlein, eins wie es die Jungen schwenkten, wenn sie unter den Bäumen in der Rothschildallee Krieg und Soldaten spielten. Zwar sah Johann Isidor zur rechten Zeit, dass sich sein Sohn aus dem Abteil lehnte und dass er den Mund aufmachte zu dem Abschiedsgruß, auf den ein Vater in der letzten Stunde, die beiden bleibt, Anspruch hat. Doch als der Zug anfuhr, hörte der Vater des Kriegsfreiwilligen Sternberg nur seine eigene Stimme. Sie rief »Leb wohl«, und die beiden Worte schmerzten im Hals, als wären sie mit Nadeln gespickt.
    Die Erinnerungen betäubten Johann Isidor. Sie lockten den Taumelnden immer weiter in eine Hölle aus schwarzen Wolken und kochender Lava. Er fühlte, wie seine Arme schwer wurden und die Beine schwach. Der Kopf schwoll zum Ballon an, zu einem roten, Hohn johlenden Ballon, der beim ersten Windhauch, der ihn traf, platzen würde. Im allerletzten Moment gelang es Johann Isidor jedoch, seine Augen aufzureißen. Er sah den Sohn, der ihm noch geblieben war.
    Zunächst hielt er den Jungen im grauen Anzug – die Ärmel der Jacke zu lang, die Hose zu kurz – für die Sinnestäuschung, die von den Menschen Besitz ergreift, wenn sie krank, ausgehungert und ausgebrannt sind, wenn sie die Beute von Hoffnungen werden, die aus den Klugen armselige Tölpel machen. Dann begriff er, staunend und zunächst unfähig, auch nur mit einem Blick auf seine verblüffende Wahrnehmung zu reagieren, dass es in diesem irrwitzigen Spiel der Sinne nur einen einzigen Irrtum gab: zu glauben, dass den eigenen Augen nicht zu trauen war.
    Erwin, den sein Vater noch ein Kind dünkte, einen kecken, vorlauten Buben, einen frechen, blasierten Lümmel, der vom Leben keine Ahnung hatte, dieser verkannte Erwin löste sich aus einer kleinen Gruppe von Gleichaltrigen. Mit baumelnden Armen und rot glühendem Gesicht ging er auf seinen Vater
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