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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor
Autoren: Jan Stressenreuter
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    „Da, auf dem Bett! Was macht Truman hier auf dem Bett? Oh, stimmt ja, du kannst ihn gar nicht sehen. Schade.“ Marius sackt zurück auf das Kopfkissen, ein entschuldigendes Lächeln tanzt über seine Lippen. Für einen Moment sieht er wunderschön aus. „Die haben mir was gegeben.“
    „Ja. Ich weiß.“ Jakob ist erschöpft, seit Tagen hat er kaum geschlafen. Es kostet Mühe, die Mundwinkel nach oben zu bewegen, aber Marius hat die Augen geschlossen. Sein Brustkorb hebt und senkt sich, und die Luft in seiner Lunge rasselt.
    Der Karton steht in der Abstellkammer, hinter dem Staubsauger, versteckt unter Plastiktüten, einer ausrangierten Kaffeemaschine und gebrauchtem, glatt gestrichenem Geschenkpapier. Arne würde nie auf die Idee kommen, hier nachzusehen. Trotzdem wartet Jakob auf eine passende Gelegenheit, zum Beispiel, wenn Arne im Büro oder auf Dienstreise ist; erst dann kramt er den Karton heraus, trägt ihn ins Wohnzimmer, hebt den Deckel ab und setzt sich im Schneidersitz auf den Boden. Er weiß, dass er die Vergangenheit nicht so häufig hervorholen sollte – sie findet ihre ganz eigenen Wege, sich in die Gegenwart zu schleichen –, aber er kann nichts dagegen tun. Sobald seine Finger die Fotos berühren, verspürt er Geborgenheit. Sobald seine Hände über die verblassten Farben streichen, fühlt er sich zu Hause.
    Die Fotos sind kleine, rechteckige Schnipsel eines Lebens, das so lange zurückliegt, dass niemand mehr sagen kann, was der Wahrheit entspricht und welche Dinge ein unstetes Gedächtnis dazuerfunden oder ausradiert hat. Sie sind seine Krücken, seine Beweisstücke. Jakob hat es immer vermieden, die Bilder einzuscannen und im Computer zu speichern. Es würde sich nicht richtig anfühlen, sie verlören ihre Bedeutung, würden untergehen in einem endlosen Meer aus Pixeln und Bytes.
    Da ist Marius mit ausgebreiteten Armen vor dem altersschwachen, weißen BMW, den er fast so sehr liebte wie Jakob; im Hintergrund die Türme von San Gimignano, bröckelnde Zeugen mittelalterlicher Großmannssucht. Marius trägt kurze, dunkle Hosen, Sandalen und ein idiotisches Grinsen im Gesicht.
    Jakob erinnert sich an die unglaubliche Hitze während des Italienurlaubs, an die flirrende Luft auf den Landstraßen, die die Natur jenseits der Fahrbahn in Schwingung zu versetzen schien. Die Kühlung des Autos fiel ständig aus, sodass sie im Wageninneren Temperaturen von beinahe vierzig Grad erdulden mussten und die ausgedörrte Landschaft der Toskana vierzehn Tage lang halbnackt durchquerten. Es könnte sein, dass sie ihre Oberkörper mit dem Wasser aus einer Wasserflasche bespritzt haben, aber vielleicht hat Jakob dieses Detail mit den Jahren auch nur hinzufantasiert. Allerdings weiß er genau, dass im Autoradio gerade „Luka“ von Suzanne Vega lief, während sie die Stadtgrenze von Lucca passierten. Marius und er hatten die Fensterscheiben heruntergekurbelt und sangen laut mit. Erst viel später ist Jakob aufgefallen, dass es in dem Lied um ein misshandeltes Kind geht. Sie waren naiv damals, jung und naiv. Aber vielleicht wollten sie auch nur für ein paar Minuten vergessen.
    Dann das Foto, auf dem sie verschwitzt und atemlos vor einem französischen Bett im Treppenhaus stehen und sich vor Lachen kaum halten können.
    Marius und er hatten Katrin beim Umzug geholfen, und während sie dieses Monstrum von Bett nach unten schleppten, klappte es plötzlich auseinander und verkeilte sich im Treppengeländer, sodass man es weder vor- noch zurück-bewegen konnte. Katrin hatte einen hysterischen Anfall bekommen, weil sie befürchtete, dass jeden Moment ihre prüden Nachbarinnen – aus irgendeinem nicht mehr nachvollziehbaren Grund waren es allesamt Postbeamtenwitwen – aus den Wohnungen stürmen und entdecken würden, auf welcher Unterlage Katrin in den letzten Jahren so lustvoll und laut Sex gehabt hatte.
    Ein dritter Schnappschuss zeigt Marius und den Kater einträchtig nebeneinander schlummernd; der Kater hat sich auf dem Kopfkissen zusammengerollt und kitzelt mit seiner Schwanzspitze Marius’ Nase.
    Jakob erinnert sich, dass jeden Morgen gegen sieben Uhr die Schlafzimmertür aufgedrückt wurde und der Kater zu ihnen ins Bett marschierte. Marius wurde mit einem Schnurren ins Ohr begrüßt und Jakob in den großen Zeh gebissen, damit er aufstand und den Fressnapf in der Küche füllte. Spätestens bei dieser Erinnerung muss Jakob lachen – auch wenn ihm das Lachen häufig im Halse stecken bleibt.
    Es gibt noch
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