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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor
Autoren: Jan Stressenreuter
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die von so weit oben wie die Lichter einer Spielzeugstadt aussahen, wie filigran gesponnene, neongelbe Spinnennetze. Es war nicht schwer, die letzten Wochen des Jahres zu hassen, von nun an für den Rest seines Lebens.
    Manchmal schlich sich Jakob für ein paar Minuten nach draußen, fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten, um in der Kälte vor dem Eingang des Krankenhauses hastig und frierend eine Zigarette zu rauchen, bis ein Pfleger Mitleid mit ihm hatte und ihm eine Ecke am Ende des Flures zuwies, ganz in der Nähe von Marius‘ Krankenzimmer.
    „Ist schon okay. Wir nehmen es nicht so genau“, sagte er. Jakob nickte dankbar.
    Und dann, am späten Abend, als Jakob sich gerade auf seine Pritsche hatte legen wollen, setzte sich Marius ruckartig auf.
    „Da, auf dem Bett! Was macht Truman hier auf dem Bett?“ Das Rasseln in seiner Lunge war auf einmal verschwunden, seine Stimme so klar wie früher. Wie Marius. „Oh. Stimmt ja, du kannst ihn gar nicht sehen. Schade.“ Er sackte zurück aufs Kopfkissen; ein entschuldigendes Lächeln tanzte über seine Lippen. Für einen Moment sah er wunderschön aus. „Die haben mir was gegeben.“
    „Ja. Ich weiß.“ Jakob war erschöpft, er war so müde. Es war so schwer, noch länger wach zu bleiben. Trotzdem lächelte er zurück, aber Marius hatte die Augen schon wieder geschlossen. Sein Brustkorb hob und senkte sich, und der Schleim in seiner Lunge begann erneut unablässig zu brodeln.
    Es passierte ganz plötzlich. Jakob wachte auf, weil etwas fehlte, weil er die Abwesenheit von etwas spürte, was vorher da gewesen war. Am Himmel war Schwarz einem noch unentschlossenen Blau gewichen, die Regenwolken des Vortags waren verschwunden. Aber das war es nicht. Das Brodeln in Marius‘ Lungen hatte aufgehört. Es war ganz still, alles war still, so unglaublich still, und für den winzigen Bruchteil einer Sekunde glaubte Jakob, dass Marius die Krise überwunden hatte, dass nun alles gut werden würde, dass ihnen ein Aufschub gewährt worden war, ein paar Wochen, ein paar Monate … ein paar Jahre? Erst dann begriff er.
    Marius gab ein Stöhnen von sich, und Jakob sagte nervös: „Marius?“
    Die Augen seines Freundes flatterten auf, sahen nichts und schlossen sich wieder.
    Jakob sprang von seiner Pritsche und hob Marius‘ Oberkörper in eine sitzende Position, hielt ihn fest in seinen Armen. Und dann hörte er ein Geräusch, das er niemals würde vergessen können: Es klang wie ein leeres Glas, das unter einen Wasserhahn gehalten wird und sich rasend schnell mit Flüssigkeit füllt, wie ein Sturzbach, der gurgelnd ein unterirdisches Höhlensystem flutet. Schleim stieg in Marius‘ Lungen empor, er quoll ihm aus den Nasenlöchern und aus den Mundwinkeln, er lief ihm über die Brust und auf die Bettdecke und über Jakobs Arme und Jakobs Hände und Jakobs Finger, und er vermischte sich mit den Tränen, die Jakob weinte, weil er wusste, dass es nun vorbei war, weil Marius nicht mehr atmete, weil er spürte, wie Marius‘ Herz immer langsamer schlug … und langsamer … und langsamer … und …

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    Die Wohnung ist renovierungsbedürftig. Während Arne ungebeten Philip ins Wohnzimmer folgt, bemerkt er abblätternde, vergilbte Tapeten, einen schmutzigen Teppichboden, Brandflecken von Zigaretten im Laminat. An der Decke hängt eine nackte Glühbirne, unter dem Fenstersims kleben Spinnweben. Kein Ort, an dem er sich zu Hause fühlen könnte.
    „Und … wo ist dieser Lars?“ Er dreht den Kopf, aber außer ihnen beiden scheint niemand in der Wohnung zu sein.
    „Nicht da“, brummt Philip. „Keine Sorge.“ Er hat seine wenigen Habseligkeiten auf dem Sofa ausgebreitet und wirft sie wahllos in eine Reisetasche, ohne weiter auf Arne zu achten.
    „Du haust ab?“, fragt Arne. „Warum?“
    Philip schweigt. „Wird Zeit für was Neues, Alter“, sagt er schließlich. Er denkt an den schmierigen alten Kunden aus dem Brauhaus. „Ich kann nicht zurück“, fügt er tonlos hinzu. „Es geht nicht mehr.“
    „Und wo willst du hin?“
    Im Hof haben die Jungen ihr Ballspiel wieder aufgenommen. Hin und wieder klatscht das Leder an eine Hauswand.
    „Keine Ahnung“, sagt Philip. „Vielleicht München. Ich kenn da jemanden, bei dem kann ich erst mal unterkommen.“ Dann dreht er sich plötzlich um. „Warum interessiert dich das, Arne?“
    „Weil ich … weil ich will, dass du bleibst.“
    Philip lacht traurig auf. „Geh zurück nach Hause, Mann. Das funktioniert nicht. Lass mich in
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