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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor
Autoren: Jan Stressenreuter
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Plastikdinosaurier aus einem Überraschungsei.
    Jakob ließ die Schachtel mit der Nummer Sieben sinken. Die Zahl war verschmiert, die Schachtel feucht. Er hatte noch nicht einmal bemerkt, dass er angefangen hatte zu heulen. Verärgert suchte er nach einem Taschentuch, putzte sich die Nase. Er würde mit dem Rauchen aufhören, wenn Marius überlebte, er würde nie wieder mit ihm streiten. Er würde jeden Tag Buße tun für die Fehler, die er gemacht hatte. Er würde wieder an einen gottverdammten Gott glauben.
    Drei Würfel, kaum fingernagelgroß. Noch mehr Konfetti, diesmal rot und in Herzform. Ein Bonbon – genaugenommen war es ja nichts zu essen. Vielleicht war es möglich, dass Marius etwas lutschte, vielleicht konnte er das bei sich behalten?
    Jakob zuckte zusammen, als das Telefon klingelte.
    „Ich bin’s“, sagte Katrin. „Wie geht’s dir?“
    „Wie schon?“, fragte Jakob zurück. In den vergangenen Tagen hatte er Katrin auf dem Laufenden gehalten. Es war beruhigend, ihre ferne Stimme zu hören. Wenn er mit ihr sprach, dachte er an grüne Wiesen, schneebedeckte Berge, dunkelblaue Seen.
    „Ich hab gerade mit Marius telefoniert.“
    „Und?“
    „Irgendwas stimmt nicht.“ Katrin klang besorgt.
    „Ja, wir hatten einen kleinen Streit. Ich bastele gerade an einer Entschuldi…“
    „Das meine ich nicht. Er … ich hab ihn kaum verstanden. Irgendwas … Ich glaube … Jakob, fahr zu ihm. Lass ihn nicht alleine jetzt.“
    Er hatte das Gespräch beendet und Marius‘ Nummer im Krankenhaus gewählt, bevor Katrin ausgeredet hatte.
    „Marius?“
    „Was …“
    „Marius, was ist los?“
    „Ich …“ Jakob hatte Schwierigkeiten, die genuschelten Worte zu verstehen. „… meine Ruhe … lass mich.“
    „Bitte“, flehte Jakob. Sein Herz schlug plötzlich bis zum Hals. „Schließ mich jetzt nicht aus.“
    „Dann … komm.“
    Es gibt keine Möglichkeit, sich auf den Tod vorzubereiten. Er ist ein feiger Hund, ein Guerillakämpfer, ein Terrorist. Er schleicht sich an wie ein Dieb in der Nacht, versteckt sich in den Schatten, die das Licht nicht erreicht. Er schlägt zu, wenn man nicht damit rechnet, wenn man sich in Sicherheit wiegt, wenn man seine Wachsamkeit sinken lässt. Der Tod kann warten, er kennt die günstigste Gelegenheit und den passendsten Augenblick. Er weiß, wann seine Stunde gekommen ist. Er weiß, wann ihm der Sieg in den Schoß fällt.
    Marius war tagsüber zunehmend unruhig geworden, hatte sich hin und her gewälzt, wollte aufstehen, hatte versucht, sich die Schnüre der Infusionen zu ziehen. Man hatte ihn ruhiggestellt; klare Momente wechselten sich ab mit Halluzinationen.
    Einmal rief seine Mutter an, und Marius gab Jakob zu verstehen, dass er nicht mit ihr sprechen wollte. Jakob vertröstete sie, behauptete, dass Marius schlafe. Sie klang verwirrt, unsicher. Wieso war ihr Sohn krank? Sie hielt die Wahrheit auf Distanz, die Ärzte mussten lügen, die Doktoren pfuschten, sie kannte Geschichten.
    „Sollen wir kommen?“, fragte sie.
    „Morgen“, sagte Jakob.
    Am Nachmittag hatten heftige Fieberschübe eingesetzt; das Thermometer stieg über 40 Grad. Unter der Bettdecke zitterte Marius‘ Körper wie ein Baum, der von einem Sturm durchgeschüttelt wird, und Jakob kletterte zu ihm ins Bett, hielt ihn fest umschlungen, flüsterte beruhigende Nichtigkeiten in sein Ohr, bis das Zittern verebbte und die Kälte in Marius‘ Gliedern von Schweißausbrüchen abgelöst wurde. Jakob wischte die salzigen Tropfen von seiner Stirn, legte Wadenwickel um seine Unterschenkel und ließ ihn die kühlende Feuchtigkeit aus einem nassen Waschlappen lutschen. Wenn das Brodeln in seiner Lunge stärker wurde, wenn Marius begann, mühsam um Luft zu kämpfen, drückte Jakob auf einen Knopf, und die Schwestern kamen und schoben Schläuche tief in seinen Schlund, saugten den Schleim ab, blutig und gelb. Dann bäumte sich Marius auf, und Jakob hielt ihm verzweifelt die Hand hin, in die er seine Finger krallen konnte.
    „Ruhig, Herr Janssen. Ganz ruhig atmen. Nur noch einmal, wir haben es gleich geschafft!“
    Anschließend erhöhten die Ärzte die Dosierung des Morphiums, und Marius sank in eine andere Welt, jedes Mal ein Stückchen tiefer, jedes Mal ein Stückchen weniger erreichbar für Jakob. Wenn Marius schlief, starrte Jakob aus dem Fenster und verfolgte die aufziehende Dämmerung, die ihre Schatten über die novembergraue, regenglänzende Stadt warf, betrachtete die aufflackernden Weihnachtsbeleuchtungen,
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