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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor
Autoren: Jan Stressenreuter
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schlaftrunken.
    „Alles prima“, log Jakob. „Viele Grüße und gute Besserung.“
    Marius schnaubte auf und fing leise an zu lachen, bis ein Hustenanfall sein Lachen abwürgte. „Du bist … so ein schlechter Lügner“, keuchte er.
    „Wo ist er?“, brüllte Jakob die Krankenschwester an. Es war der dritte Tag von Marius‘ Klinikaufenthalt. „Wo haben Sie ihn hingebracht?“ Er war außer sich vor Wut. Am Vormittag hatte er für wenige Stunden die Klinik verlassen, um Besorgungen zu machen, seinem Professor mitzuteilen, dass er in den nächsten Wochen nicht an den Seminaren teilnehmen konnte, und jetzt, als er zurückkam, hatte er ein leeres Krankenzimmer vorgefunden. Kein Bett, kein Marius, nur sein Walkman lag auf dem Nachttisch neben dem Telefon.
    „Beruhigen Sie sich, Herr Brenner. Ihr Freund ist bei der Bronchoskopie.“ Schwester Cho, eine junge Frau in Jakobs Alter mit langen, dunklen Haaren und freundlichen, asiatischen Augen, legte ihm eine Hand auf den Arm. „Kein Grund zur Sorge.“
    „Wieso ist er bei der Bronchoskopie? Die hat Marius immer abgelehnt!“ Jakob wollte sich nicht beruhigen, auch wenn er sich mit Schwester Cho bisher gut verstanden hatte. Sie machte kleine Scherze, wenn sie nach Marius sah, schüttelte ungefragt sein Kopfkissen auf, erzählte von ihrem Freund. Und dennoch: Sie bestand darauf, Jakob und Marius mit ihren Nachnamen anzusprechen. Jakob verdächtigte sie deshalb, bewusst auf Abstand zu bleiben. Denn hieß das nicht, dass Marius todgeweiht war? Oder redete er sich das nur ein? Es war so schwer, den Ängsten nicht nachzugeben, zu unterscheiden, was falsch und richtig war. Es war so schwer, stark zu sein. Am liebsten wäre er gerannt, am liebsten hätte er sich versteckt, in einem Loch im Boden, einer unzugänglichen Höhle. Doch auch dort wäre er seiner Angst nicht entkommen. Sie irrte in seinen Gedanken umher wie ein Wolf, der in der Ferne Aas gewittert hat, blähte ihre Nüstern und schnüffelte im Wind.
    Die Schwester zögerte. „Er hatte plötzlich Probleme mit dem Atmen, und die Ärzte haben entschieden …“
    „Was?“
    In diesem Moment öffnete sich die Fahrstuhltür und das Bett, in dem Marius lag, wurde über den Flur gefahren. Er sah bleich aus, unsäglich erschöpft. In seinen Nasenlöchern befanden sich zwei Plastikschläuche, und neben ihm lag eine Atemmaske, die zu einem Sauerstoffgerät am Bettgestell führte.
    „Scheiße“, flüsterte Jakob. Erst dann bemerkte er das kleine Rinnsal Blut, eingetrocknet und dunkelrot, wie ein dünner Faden Wolle, der von Marius‘ Mundwinkel zu seinem Kinn führte und irgendwo in der Pyjamajacke verschwand.
    „Herrgott noch mal!“, fauchte er den begleitenden Arzt an. „Er sieht aus, als wäre er beim Pferdemetzger gewesen! Ist das Ihre Art, mit Patienten umzugehen?“ Irgendwer musste für dieses Desaster verantwortlich sein, an irgendjemandem musste er seine Frustrationen auslassen.
    Marius öffnete den Mund. „Nicht“, brachte er mühsam heraus und umklammerte Jakobs Handgelenk. Eine einzelne Träne löste sich aus dem Augenwinkel und rann seitlich die Schläfe hinab. „Hör auf.“
    Wenige Stunden später standen drei Ärzte um Marius‘ Bett herum, geballte Kapazität, versammeltes Wissen. Obwohl das bei dieser Krankheit nicht viel zu bedeuten hatte. Auch nach mehr als fünf Jahren war Aids noch zu neu, das Wissen nur in Ansätzen vorhanden. Die Mediziner dieses Jahrzehnts waren Entdecker, Forscher, die wie in früheren Zeiten erst einmal sammeln, einordnen und katalogisieren mussten, die oft staunend – und manchmal erschrocken – innehielten. Heiler waren sie nicht.
    „Geht es besser mit dem Sauerstoff?“, fragte der Stationsarzt, ein schmächtiger Mann, dessen Haar dünn und formlos an seinem Schädel klebte. Seine Augen waren hinter dicken Brillengläsern versteckt.
    Marius nickte.
    „Ich spare mir die medizinischen Fachausdrücke“, sagte der zweite Arzt mit schmalen Lippen. Unter seinem Kittel konnte Jakob den Ansatz einer schwarzen Fliege erkennen. Vielleicht ein Oberarzt? Außerhalb der Visite bekamen sie die Oberärzte und Chefmediziner sonst nicht zu sehen. War Marius schon zu einem interessanten, einem lehrreichen Fall geworden? „Bei der Bronchoskopie sind Kaposi-Sarkome in Ihrer Lunge festgestellt worden. Wir gehen davon aus, dass auch die Probleme der Bauchspeicheldrüse mit bösartigen Geschwüren zusammenhängen. Sie sind ein schwer kranker Mann, Herr Janssen. So weit die schlechte
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