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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor
Autoren: Jan Stressenreuter
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Fassungslosigkeit berichteten und in ihren Analysen den Ereignissen hinterherhetzten wie verspätete Reisende, die einem anfahrenden Zug nachrennen. Sie hatten Leute beobachtet, die sich vor Glück weinend in die Arme fielen, Schlagbäume passierten, tanzten vor Freude. Doch auch wenn sie versuchten, nachzuempfinden: Nichts davon hatte sich real angefühlt, nichts davon hatte sie berührt. Dort, in dieser fernen, unerreichbaren Wirklichkeit, mochte Geschichte geschrieben werden – sie waren damit beschäftigt, ihre eigene zu schreiben, eine Geschichte, die alle Sinne, alle Gefühle taub werden ließ, als säßen sie mit nackten Körpern in einem Schneesturm.
    Noch Jahre später, wenn Jakob gefragt wurde, was er in diesem Herbst gemacht hatte, wie er sich an die Geschehnisse von damals erinnerte, wo er sie erlebt hatte, sah er nur Marius vor sich. Wenn andere in Rückschauen schwelgten, Geschichten von den Montagsdemonstrationen in Leipzig erzählten, dem plötzlichen Auftauchen einer Ostberliner Tante vor der Wohnungstür in Berlin-Charlottenburg, den leergekauften Aldi-Märkten im Westen der Stadt, dann bekam sein Gesicht einen steinernen Ausdruck, und er verließ wortlos den Raum. Einmal, als das Thema zufällig während der Geburtstagsfeier eines Bekannten angeschnitten wurde, hatte er sein Schweigen gebrochen und gesagt: „Mein Freund ist kurz nach dem Mauerfall an Aids gestorben.“ Die anderen Gäste hatten ihn angesehen, als wäre er ein Spielverderber, jemand, der absichtlich einer geselligen Runde die Laune vermiesen wollte.
    Nur ein einziges Mal überschnitten sich die beiden Welten, als Jakob unbedacht anmerkte, dass jetzt Marius‘ Chance da sei, seinen Traum zu verwirklichen: Jetzt könne er sich auf Altbausanierung spezialisieren, jetzt könne er tun, was er immer gewollt habe. Die DDR habe bestimmt genügend Häuser, die von Grund auf renoviert werden müssten. Ob er noch alle Tassen im Schrank habe, hatte ihn Marius daraufhin angeschrien. Ob er nicht wahrhaben wolle, was mit ihm geschehe? Und Jakob war in Tränen ausgebrochen, hatte gestammelt, dass es seine Schuld sei, dass er Marius nicht hätte verlassen dürfen.
    „Ja“, hatte Marius erwidert, plötzlich wieder besänftigt. „Das hättest du nicht tun sollen, Jakob. Aber es ist nicht deine Schuld. Denk so etwas nicht.“
    Die Komplikationen hatten sich vor drei Tagen eingestellt. Plötzlich gab es einen neuen Grund, warum Marius keine Nahrung mehr bei sich behalten konnte, kaum dass seine Mundhöhle halbwegs verheilt war. Einen ernsteren Grund, eine Bauchspeicheldrüsenentzündung, nicht einmal mehr Mineralwasser konnte er trinken. Vielleicht eine Nebenwirkung der Chemotherapie, vielleicht eine Folge der Krankheit, aber wer konnte das schon so genau sagen? Mit Händen und Füßen hatte er sich gegen die Einweisung ins Krankenhaus gewehrt („Ich komme da nicht mehr raus! Bitte, die Infusionen kann mir auch der Hausarzt zu Hause anlegen!“), aber es hatte nichts genützt. Niemand wollte die Verantwortung übernehmen, und erst, als sichergestellt war, dass er ein Einzelzimmer bekommen würde und Jakob die Nächte auf einer Pritsche neben seinem Bett verbringen konnte, hatte er zugestimmt.
    Am Nachmittag, als er Marius im Krankenhaus abgeliefert hatte und alle bürokratischen Verwaltungsakte erledigt waren, als er Marius ein paar Rosen aus der Blumenhandlung gegenüber auf den Nachttisch gestellt und mit ihm die Aussicht von seinem Zimmer im elften Stock der Uniklinik betrachtete hatte („Siehst du das Cranachwäldchen? Da hinten, wo der Rhein eine Kurve macht! Erinnerst du dich?“ – „Ja“, hatte Marius erwidert. „Du hattest Kartoffelsalat gemacht. Den besten, den ich je gegessen habe.“), ließ er Marius etwas verloren auf seinem Bett sitzend zurück.
    „Musst du wirklich gehen? Ich will hier nicht alleine sein.“
    „Ich komme wieder“, erwiderte Jakob. „Das weißt du doch.“ Es war, als spräche er mit einem Kind. Für einen Moment rebellierte alles in ihm, wollte er die Verantwortung abstreifen wie eine viel zu große Jacke und gegen ein Kleidungsstück eintauschen, das ihm passte. „Aber ich muss …“
    „Ja“, sagte Marius. „Natürlich.“

    Jakob hatte seinen Eltern in einem kurzen Telefonat nur vage mitgeteilt, dass es Marius nicht gut ginge und er ihn ins Krankenhaus bringen müsse, hatte keine Begründung genannt und alles möglichst harmlos klingen lassen. Wozu schlafende Hunde wecken, hatte er sich eingeredet.
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