Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor
Autoren: Jan Stressenreuter
Vom Netzwerk:
Nachricht. Die gute ist, dass wir glauben, Sie noch einmal hinzubekommen.“
    Also würde Marius leben! Jakob zwang ein Schluchzen in seine Kehle zurück. Ein Gefühl unendlicher Erleichterung machte sich in seinem Bauch breit, und er sackte auf seinen Stuhl zurück, entkrampfte seine zusammengepressten Fäuste.
    Der Oberarzt räusperte sich. „Da ist noch etwas. Ich … ich gebe eine Vorlesung für Medizinstudenten der oberen Semester. Die wenigsten von ihnen hatten bisher die Chance, einen Patienten mit Aids im Vollbild … diese ausgeprägten Kaposi-Sarkome auf der Haut … wären Sie bereit? Man würde Sie natürlich im Pflegebett dort hinbringen … Sie bräuchten nichts zu tun und …“
    Jakob griff nach dieser Gelegenheit, seinen durcheinanderwirbelnden Gefühlen ein Ventil zu geben. Wie ein Dampfkessel, in dem heißes Wasser überkocht, explodierte er. „Marius ist kein Affe im Zoo! Gerade noch haben Sie gesagt, er sei schwer krank, und jetzt wollen Sie ihn ausstellen wie eine Zirkusattraktion? Soll er vielleicht noch Männchen machen und durch einen brennenden Reifen springen?“
    „Jakob …“
    „Ich habe lediglich gefragt, ob Herr Janssen bereit wäre …“
    „Nein!“, schnitt Jakob dem Mann das Wort ab. „Kommt nicht in Frage!“
    Als die Ärzte den Raum verlassen hatten, schüttelte Marius unwillig den Kopf.
    „Was?“, fragte Jakob. „Ich hab doch nur …“
    „Lass es!“, erwiderte er angestrengt. Bei jedem Atemzug brodelte es bedrohlich in seinen Lungen wie Wasser, das in einem verstopften Abfluss gluckert.
    „Aber …“
    Marius setzte sich mühsam auf, zerrte fahrig an den Plastikschnüren, die in seine Nase führten. „Ich bin auf … deren guten Willen angewiesen. Hör endlich auf, die Leute so anzumachen!“ Er fiel auf sein Kopfkissen zurück, holte angestrengt Luft.
    „Du willst dich angaffen lassen?“
    „Ich will … ich will meine Ruhe haben!“, keuchte Marius. „Du hast keine Ahnung … was ich hier durchmache.“
    „Na ja, eben! Deshalb ja!“
    „Ich … kann … das noch selber entscheiden!“ Jedes einzelne Wort kostete Marius Kraft. „Was glaubst du … wer du bist? Mein Vormund?“
    Jakob starrte Marius stumm an. „Vielleicht sollte ich heute Nacht mal zu Hause schlafen“, sagte er schließlich. „Ich kann nicht mehr. Ich brauche eine Pause.“
    „Dann geh.“ Marius schloss die Augen. „Ich brauche … Ruhe. Geh.“ Nicht einmal, als Jakob kurz darauf die Tür hinter sich zuzog, sah er ihm nach. Wie ein geprügelter Hund schlich Jakob davon.
    Schon vor zwei Wochen hatte er den Adventskalender im Vorbeiradeln in einem Dekogeschäft in der Innenstadt entdeckt, war abgestiegen und hatte ihn kurzentschlossen gekauft. Schächtelchen mit vierundzwanzig Zahlen beschriftet, zu einem Weihnachtsbaum gestapelt. Eigentlich hatte er vorgehabt, ihn mit Süßigkeiten vollzustopfen, mit Marzipankartoffeln, selbstgebackenen Plätzchen, Schokoladentäfelchen, aber jetzt, da Marius nicht mehr essen konnte … Als er am Morgen bemerkt hatte, wie sehnsüchtig Marius auf das Frühstückstablett starrte, das die Schwester für Jakob brachte, hatte er jedoch eine Idee gehabt. Warum nicht andere Dinge darin verstecken, kleine Überraschungen, etwas, das Marius ablenken würde, etwas, auf das er sich jeden Tag freuen konnte? Eine Entschuldigung. Ein Pfand auf die Zukunft.
    Bunte Glasmurmeln in grün, silbern und gelb. Einen Schlüsselanhänger mit einem Miniaturweihnachtsmann. Blauglitzerndes Konfetti in Sternenform.
    Draußen prasselte Regen gegen die Fensterscheiben, ein böiger Wind rüttelte an den Rahmen. Im Radio lief „Last Christmas“, danach ein Bericht über die neuesten Entwicklungen in der DDR. Jakob hörte kaum hin. Die Wohnung fühlte sich seltsam leer an ohne Marius, ohne den Kater, der sich bei Marius‘ Eltern in Pflege befand, weil Jakob nur wenige Stunden am Tag zu Hause war, weil er jede freie Minute im Krankenhaus verbrachte.
    Sie hatten Pläne für einen Weihnachtsbaum gehabt – „Zwei Meter!“, hatte Marius gesagt, noch Anfang November. „Mit einem kitschigen, blondgelockten Engel, dem wir die Baumspitze in den Arsch rammen!“ –, aber nach dem Geschwür am Gaumen hatte sie keinen Mut mehr gehabt, die Pläne weiterzuverfolgen. Zu große Träume, zu waghalsig, zu fern diese Zukunft. Es war besser, in kleinen Schritten zu denken, in Stunden, in Tagen, wie bei dem Adventskalender.
    Ein Matchboxauto für Marius‘ Sammlung, eine winzige Schneekugel, ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher