Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor
Autoren: Jan Stressenreuter
Vom Netzwerk:
mehr als Katrin, mehr als Arne, vielleicht sogar mehr als Marius. Vor allen Dingen weiß sie, dass Jakob unglücklich ist. Aber das weiß sogar Arne, der Jakob hierhingeschickt hat, unter der Drohung, es sonst nicht mehr mit ihm auszuhalten. Nur weshalb Jakob unglücklich ist, das weiß seine Therapeutin noch nicht – das heißt, sie hat eine Vermutung, aber Jakob muss den Grund selbst herausfinden. Sie kann ihm nur den Weg zeigen, der zu seiner Traurigkeit führt. So lautet ihre Vereinbarung. Später, wenn er sie gefunden hat, seine Melancholie, seine Depression oder wie immer man das Gefühl bleierner, lähmender Schwere auch nennen mag, kann sie Jakob helfen, diesen Schatten auf seiner Seele zu betrachten. Silky Legs hat ihm auch erklärt, dass sein Zustand früher als Schwarzgalligkeit bezeichnet wurde, weil man der irrigen Annahme war, er würde durch die sich ins Blut ergießende Gallenflüssigkeit hervorgerufen. Seitdem wird er das Bild nicht mehr los, dass seine Depression wie ausgelaufene schwarze Tinte in seinem Körper herumschwappt.
    Aber Jakob hat Angst, sich seiner Traurigkeit anzunehmen. Natürlich. Jedes Mal, wenn er zurückschreckt, wenn er Stoppschilder auf dem Weg in sein Innerstes aufstellt, wird es still in dem Raum. Die Therapeutin kennt dieses Schweigen, dieses Verstummen. Sie hat es schon viele Male, von vielen Patienten vernommen.
    „Wovor haben Sie Angst, Herr Brenner?“ Sie sieht ihn an, streicht eine Strähne ihrer Haare hinters Ohr, und Jakob senkt den Blick, zuckt mit den Schultern. Die Therapeutin wartet, lässt der Stille Zeit, sich auszubreiten.
    „Davor, dass es mich zerdrückt“, platzt er schließlich heraus.
    „Zerdrückt?“
    Jakobs Hände wischen über seine Oberschenkel. „Dass ich es nicht aushalte.“
    „Sie halten es schon jetzt nicht mehr aus.“
    „Wieso?“
    „Sonst wären Sie nicht zu mir gekommen.“
    „Arne wollte, dass ich …“, verteidigt sich Jakob und bricht ab. „Es tut so weh“, sagt er dann einfach. Er schluckt und kämpft die aufsteigenden Tränen herunter. Plötzlich fühlt er sich wie ein sechsjähriger Junge, der von der Schaukel gefallen ist und sich das Knie aufgeschrammt hat. Der sich in die tröstenden Arme seiner Mutter flüchten will.
    Die Therapeutin bemerkt seine Fassungslosigkeit und hakt nach. „Welcher Ihrer Gedanken macht Sie traurig, Herr Brenner?“
    Er schweigt.
    „Wenn Sie Ihre Angst nicht überwinden, wird der Schmerz immer größer werden.“
    „Ich weiß“, murmelt Jakob. Marius’ Gesicht taucht vor ihm auf, die Augen enttäuscht von ihm abgewendet. Das, mehr als alles andere, lässt Jakob seinen Mut zusammenraffen. Er will Marius nicht enttäuschen. Nicht noch mehr. Nicht noch einmal. „Kann ich …?“, fragt Jakob und deutet auf die Couch. Er hat das Gefühl, dass er besser reden kann, wenn er seine Therapeutin nicht sieht, wenn sie im Hintergrund bleibt.
    „Natürlich.“
    Jakob wechselt schwerfällig vom Stuhl auf die Couch und starrt an die Decke.
    „Hast du vielleicht Lust, noch mit zu mir zu kommen?“ Jakobs Stimme war heiser vor Aufregung.
    Erst nach Mitternacht trieb es sie endlich aus dem Darkroom. Ihre Gesichter glänzten fiebrig. Auf Marius’ Oberlippe hatten sich feine Schweißperlen gebildet, durchsichtig wie Glas, salzige Tropfen, die er mit einer unwilligen Bewegung abwischte. Jakob wusste das noch nicht, aber die Tatsache, dass über seiner Oberlippe kein Bart wuchs, war einer von Marius’ wunden Punkten. Zu gerne hätte er wie alle anderen einen Schnäuzer oder, wie Jakob, einen Dreitagebart gehabt.
    „Jetzt?“, erwiderte Marius erstaunt und merkwürdig ungeduldig.
    „Na ja, ich dachte, wir könnten noch ein bisschen kuscheln und so …“ Jakob schaute zu Boden, als fürchtete er, dass sein Bedürfnis nach Zärtlichkeit den anderen abschrecken könnte.
    „Wäre es nicht sinnvoller gewesen, mich das vorher zu fragen? Ich meine, bevor wir …?“ Marius unterbrach sich, als er Jakobs enttäuschten Gesichtsausdruck bemerkte. „Ich würde gerne noch mitkommen. Kuscheln hört sich gut an. Aber ich bin mit dem Auto da.“
    „Du hast einen Wagen?“ Jakob besaß gerade mal ein klappriges Fahrrad ohne Schutzblech und mit einem Wackelkontakt in den Leuchten, mit dem er jeden Morgen zur Uni fuhr. „Was bist du von Beruf?“
    „Ich studiere noch.“
    „Und was?“
    „Architektur.“
    „Dann hast du reiche Eltern!“
    Jakobs Bemerkung klang fast wie eine Beschuldigung, aber Marius zuckte nur mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher