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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor
Autoren: Jan Stressenreuter
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Hoffnung, dass vielleicht genau seine zehn Euro einem Kind in Darfur, Bangladesch oder Somalia das Überleben sichern. Dass irgendetwas, das er tut, einen Unterschied macht. Es wäre etwas, worauf er stolz sein kann.
    Arne und er teilen sich eine große Wohnung am Rande der Innenstadt. (Arne ist auch Eigentümer eines Apartments, das er vor Jahren von seinen Eltern geerbt hat und das zurzeit leer steht. Es ist klein und dunkel, weil es im Souterrain eines sechsstöckigen Mietshauses im Schatten einer großen Buche liegt. Daher ist es schwierig, einen Mieter zu finden.) Ihre Wohnung liegt direkt hinter dem Ring, eine der Hauptverkehrsadern von Köln, der den Stadtkern wie ein zu eng gewordener Gürtel umschließt. Es ist ein ausgebautes Dachgeschoss mit schrägen Wänden und einer weitläufigen Terrasse, die Jakob mit Bambusbüschen aus seiner Gärtnerei bepflanzt hat – in großen erdfarbenen Terrakottatöpfen, als Sichtschutz gegen die Nachbarn der umliegenden Häuser. Auch wenn Arne und er nicht das Geringste zu verbergen haben.
    Die Wohnung befindet sich in einem Zustand des permanenten Chaos; sie sind beide nicht besonders gut, wenn es darum geht, Ordnung zu schaffen. Immer wieder gibt es hektische Momente, in denen einer von ihnen verzweifelt nach einer verlegten Scheckkarte, einem verschwundenen Schuh, einer abhanden gekommenen Brille fahndet. (Arne ist weitsichtig, zum Lesen braucht er seit Jahren eine Sehhilfe.) Meist tauchen die Sachen nach ein paar Tagen unter einem Schrank, verborgen zwischen Sofakissen oder an einem Ort auf, mit dem keiner gerechnet hat. Erst gestern, als er sich Kaffee aufwärmen wollte, ist Jakob in der Mikrowelle auf die vermissten Quittungen für Arnes Steuererklärung gestoßen. Beide konnten sich nicht erklären, wie sie dorthin gekommen sind.
    In der Wohnung gibt es ein Wohnzimmer – von dem aus man die Terrasse betreten kann – mit den üblichen Annehmlichkeiten, die für ein Paar mit doppeltem Einkommen beinahe selbstverständlich sind: eine HiFi-Anlage mit allem technischen Schnickschnack, einen übergroßen Plasma-Fernseher, ein bequemes Sofa und einen Parkettfußboden, in dessen unzugänglichen Ecken sich Wollmäuse verstecken. Es gibt ein etwas kleineres Arbeitszimmer, in dem Jakob seine vielen Bücher untergebracht hat – Arne liest in seiner Freizeit eigentlich nur Fachzeitschriften für Computertechnik – und in dem sich zwei ziemlich unaufgeräumte Schreibtische mit zwei Rechnern befinden, Kopierer, Faxgerät und Drucker, dazu noch Arnes Laptop, wenn er nicht dienstlich unterwegs ist. Es gibt ein Gästezimmer mit einer ausziehbaren Schlafcouch, in dem so gut wie nie Besuch übernachtet und das die beiden hauptsächlich nutzen, um ihre Bügelwäsche zu stapeln.
    Das Bad ist geräumig, besitzt eine Badewanne und eine begehbare Dusche, zwei Waschbecken, einen kleinen Spiegelschrank für Jakobs Medikamente, und es ist grau gefliest. Neben der Toilette befindet sich ein Stapel mit weiteren Zeitschriften, zerfledderten, alten Wochenzeitungen und dem ein oder anderen Comicbuch, zu denen die beiden greifen, wenn sie sich hierhin zurückziehen. In die Wand der Dusche sind Nischen eingebaut, auf denen sich diverse Duschgels, Reinigungscremes und Shampoos tummeln, auf dem Fenstersims steht ein üppig sprießender Farn, den Arne seit Jahren am liebsten entsorgen würde, weil er ihn daran hindert, das Fenster weit zu öffnen. Aber er weiß, dass er das Jakob nicht antun kann. Die Pflanze stammt noch aus seiner Zeit mit Marius, sie hat die letzten Jahrzehnte wie durch ein Wunder überlebt und wird von Jakob gehegt und gepflegt, regelmäßig gedüngt, mit frischer Erde versorgt und beschnitten. Ginge sie ein, würde es ihm das Herz brechen.
    Die Küche beinhaltet einen überdimensionierten amerikanischen Kühlschrank, auf dessen Front Arne und Jakob mit Magneten kleine Zettel befestigt haben, mittels derer sie kommunizieren, wenn sie sich zu Hause verpassen: frische Wurst kaufen! und Klopapier ist alle! oder Termin Reisebüro am 17. Mai um 16.30 Uhr. In der Mitte des Raums steht ein großer Tisch aus massivem Holz, an dem bis zu acht Personen Platz finden und der übersät ist mit den Gebrauchsspuren der vergangenen Jahre: Schnittstellen von Messern, heruntergetropftes Kerzenwachs, zwei oder drei Brandlöcher von Zigaretten. Es ist ein gemütlicher Tisch, ein Tisch, an dem man sich wohlfühlen kann, an dem man keine Scheu haben muss, sich daneben zu benehmen. Zu Beginn ihrer
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