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Wie Jakob die Zeit verlor

Wie Jakob die Zeit verlor

Titel: Wie Jakob die Zeit verlor
Autoren: Jan Stressenreuter
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den Schultern. „Ich studiere in Koblenz und meine Eltern wohnen in Köln. Also brauche ich ein Auto, um sie am Wochenende besuchen zu können.“ Es hörte sich an, als läge die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel außerhalb seines Vorstellungsvermögens. „Abgesehen davon ist es ein alter Wagen, ein BMW 2002.“ In Jakobs Gesicht spiegelte sich Unverständnis wider. „Das ist ein Liebhabermodell. Wurde nur bis 1977 gebaut. Meiner ist von 1973.“
    „Und das ist … schlecht?“
    Marius starrte Jakob an, und dann brach unbändiges Gelächter aus ihm heraus. „Du hast keine Ahnung von Autos, oder?“
    Jakob grinste zurück und überspielte sein Gefühl von Unterlegenheit. „Stimmt. Aber ich kann unheimlich gut blasen.“
    „Hab ich gemerkt. Und wo wohnst du?“
    „Drüben in Deutz, in der Nähe der FH.“ Plötzlich war Jakob nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war, Marius einzuladen. Was würde er zu einem möblierten Zimmer in einer WG sagen, noch dazu, wenn die Ausstattung mehr oder weniger aus Sperrmüll bestand? Würde er nicht auf der Stelle kehrtmachen, wenn er das schmale Kastenbett und das Sofa mit den kaputten Sprungfedern entdeckte, würde er nicht den Kopf schütteln und unter einem fadenscheinigen Vorwand die Flucht ergreifen?
    Aber Jakobs Bedenken waren unbegründet. Wenn Marius Vorbehalte gegen Jakobs Einrichtung hatte, dann ließ er sich nichts anmerken. Auf Zehenspitzen schlichen sie in die Wohnung, um Jakobs Mitbewohner nicht aufzuwecken, unterdrückten ein plötzliches, nervöses Kichern, als sich Marius den Fuß im Dunkel des Flures stieß. Hastig zogen sie sich aus, nachdem Jakob die Tür zu seinem Zimmer hinter sich geschlossen hatte, ungeduldig, hungrig, um dann sehr viel ernster und langsamer fortzufahren: Finger, die nackte Haut erkundeten, Hände, die beinahe ehrfürchtig ertasteten, Blicke, die einander festhielten. Das hölzerne Gestell des Bettes knarrte unter ihren Bewegungen, und Jakob spürte Marius’ stoßweisen, hilflosen Atem über seine Stirn branden, als er zum zweiten Mal in dieser Nacht kam.
    „Ich steh auf deine Brustbehaarung“, flüsterte Marius, als Jakob später in seinen Armen lag. „Das ist so weich und wuschelig.“ Seine Hand glitt über Jakobs Oberkörper, strich über die dunklen Haare und folgte ihnen bis zu dem Flaum, der wie ein schmales Rinnsal vom Bauchnabel zur Schambehaarung floss.
    Jakob grinste. „Und ich steh drauf, dass du keine hast. Das ist so glatt und griffig.“ Er hob seinen Kopf und suchte Marius’ Augen. „Wie alt bist du eigentlich?“
    „Zweiundzwanzig.“
    „Du siehst älter aus. Ich hatte dich auf fünfundzwanzig geschätzt.“
    „Danke. Ich fasse das als Kompliment auf. Ich kann es nicht ausstehen, so jung zu sein.“
    „Wieso nicht?“
    „Keine Ahnung. Ich glaube, dreißig ist ein gutes Alter. Dann ist man erst richtig erwachsen. Ich will so schnell wie möglich dreißig werden.“ Marius’ Lippen berührten Jakobs Augenbrauen, und Jakob seufzte zufrieden. Ein träges, wohliges Gefühl durchströmte ihn. „Und du?“
    „Und ich was?“
    „Wie alt bist du?“
    „Vierundzwanzig.“
    „Das ist wirklich unfair!“, erklärte Marius. „Du bist älter, du hast ordentlichen Bartwuchs und du hast Haare auf der Brust.“
    „In zwanzig Jahren wirst du dich mit Sehnsucht an dein jetziges Alter erinnern“, murmelte Jakob. Sein Kopf ruhte auf Marius’ Brust, und er spürte, wie die Müdigkeit ihre langen Finger nach ihm ausstreckte. Er wünschte, er könnte die Zeit anhalten. Dieser Augenblick war perfekt, um für immer darin zu leben. „Dann bist du nämlich über vierzig und quasi scheintot als schwuler Mann.“
    „Ich glaube nicht daran, dass ich so alt werde“, erwiderte Marius leise und streichelte Jakobs Wangen.
    „Mmh?“
    „Vor ein paar Jahren war ich mal bei einer Wahrsagerin. Sie hat gesagt, dass meine Lebenslinie sehr kurz ist. Siehst du?“ Er hielt seine Handfläche in den Lichtschein, den die Straßenlaterne vor dem regennassen Fenster auf das Bett warf und der die Haare auf Jakobs Arm in ein kühles, goldenes Licht tauchte. „Die Linie bricht mitten auf der Handfläche ab.“
    „Und daran glaubst du?“, brummte Jakob und gähnte.
    „Nein. Natürlich nicht.“
    Jakob spürte das Zögern in Marius‘ Stimme, als lauschte er zweifelnd in sich hinein. Als hätte das Aussprechen der Prophezeiung eine Saite in ihm zum Klingen gebracht, die stumm geblieben wäre, wenn er geschwiegen hätte. Aber Jakob
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