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Maigret - 38 - Maigret und die Bohnenstange

Maigret - 38 - Maigret und die Bohnenstange

Titel: Maigret - 38 - Maigret und die Bohnenstange
Autoren: Georges Simenon
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Maigret trifft eine alte Bekannte wieder, die ihr Leben auf ihre Art geändert hat und vom Traurigen Alfred und von einer mutmaßlichen Leiche berichtet
    Auf dem Formular, das der Bürodiener hatte ausfüllen lassen und jetzt Maigret reichte, war zu lesen:
     
    Ernestine, genannt die Bohnenstange (geborene Micou, jetzt Jussiaume), die Sie vor siebzehn Jahren in der Rue de la Lune festgenommen haben und die sich damals splitternackt ausgezogen hat, um Sie zu ärgern, ersucht um die Ehre, Sie dringend in einer äußerst wichtigen Angelegenheit zu sprechen.
     
    Maigret warf einen verstohlenen Seitenblick auf den alten Joseph, um festzustellen, ob er die Mitteilung gelesen hatte, aber der weißhaarige Amtsdiener blieb unbewegt. Er war vermutlich an diesem Morgen der Einzige in allen Büros der Kriminalpolizei, der sich nicht die Hemdsärmel aufgekrempelt hatte. Zum ersten Mal fragte sich der Kommissar, welch unsinnige Bestimmung diesem ehrwürdigen Mann vorschrieb, eine Kette mit einer riesigen Medaille um den Hals zu tragen.
    Es gibt Tage, an denen einem alberne Fragen durch den Kopf gehen. Diesmal hing das vielleicht mit der Hundstagshitze zusammen. Vielleicht hinderte Maigret auch die allgemeine Urlaubsstimmung daran, die Dinge allzu ernst zu nehmen. Die Fenster standen weit offen, und der Straßenlärm von Paris drang in das Büro herauf, wo der Kommissar vor dem Eintreten Josephs damit beschäftigt gewesen war, den Flug einer Wespe zu beobachten, die im Kreise flog und jedes Mal an derselben Stelle gegen die Zimmerdecke prallte. Gut die Hälfte der Inspektoren machte Urlaub am Meer oder war aufs Land gefahren. Lucas trug einen Panamahut, der sich auf seinem Kopf wie eine Eingeborenenhütte oder ein Lampenschirm ausnahm. Der oberste Chef war tags zuvor wie jedes Jahr in die Pyrenäen abgereist.
    »Betrunken?«, wollte Maigret von dem Bürodiener wissen.
    »Ich glaube nicht, Monsieur Maigret.«
    Bekanntlich verspüren manche Frauen, wenn sie zu viel getrunken haben, das Bedürfnis, mit Enthüllungen zur Polizei zu laufen.
    »Nervös?«
    »Sie hat von mir wissen wollen, ob es lange dauern würde, und ich habe geantwortet, dass ich nicht einmal wüsste, ob Sie sie empfangen würden. Sie hat sich in eine Ecke des Warteraums gesetzt und liest die Zeitung.«
    Maigret erinnerte sich weder an die Namen Micou und Jussiaume noch an den Spitznamen »Bohnenstange«. Aber er wusste noch genau, was sich damals in der Rue de la Tune abgespielt hatte, an einem glühendheißen Tag wie diesem, an dem der Asphalt unter den Schuhsohlen nachgibt und Paris mit Teergeruch erfüllt.
    Es war draußen, unweit der Porte Saint-Denis gewesen, in einer kleinen Straße mit anrüchigen Hotels und Lädchen, die Waffeln und Kuchen verkaufen. Er war damals noch nicht Kommissar gewesen. Die Frauen trugen enggeschnittene Kleider und ließen sich die Haare im Nacken ausrasieren. Um Erkundigungen über das leichte Mädchen einzuholen, hatte er mehrere Bars abklappern müssen und dabei jedes Mal einen Pernod getrunken. Unwillkürlich stieg ihm jetzt fast dieser Duft in die Nase, ebenso wie der Geruch nach Achsel- und Fußschweiß, der für das kleine Hotel charakteristisch war. Das Zimmer lag in der dritten oder vierten Etage. Er hatte sich in der Tür geirrt und zunächst einem Schwarzen gegenübergestanden, der auf der Bettkante saß und Akkordeon spielte, einem Musiker von einem Musette-Ensemble vermutlich. Ohne aus dem Takt zu kommen, hatte der Schwarze mit vorgestrecktem Kinn auf die Tür nebenan gedeutet.
    »Herein!«
    Eine heisere Stimme, die Stimme eines Menschen, der im Leben zu viel getrunken oder geraucht hat. Dann am Fenster, das auf den Hof hinausging, ein großes Mädchen in einem himmelblauen Morgenrock, das sich auf einem Spirituskocher ein Kotelett briet.
    Die Frau war so groß wie Maigret, vielleicht noch größer. Sie hatte ihn ungerührt von Kopf bis Fuß gemustert und sofort gefragt:
    »Sind Sie ein Bulle?«
    Er hatte die Brieftasche und die Banknoten oben auf dem Spiegelschrank gefunden, und sie hatte nicht mit der Wimper gezuckt.
    »Eine Kollegin hat das Ding gedreht.«
    »Welche Kollegin?«
    »Ich weiß nicht, wie sie heißt. Alle nennen sie Lulu.«
    »Wo ist sie?«
    »Suchen Sie sie! Das ist Ihr Beruf!«
    »Ziehen Sie sich an und kommen Sie mit!«
    Es war nur ein Beischlafdiebstahl gewesen, aber man maß ihm am Quai einige Bedeutung bei, nicht so sehr des Geldbetrages wegen, der ziemlich hoch gewesen war, sondern weil der
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