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Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

Titel: Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)
Autoren: Ingomar von Kieseritzky
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1 Durch die freundliche Vermittlung des Therapeutengespanns Wolzan/Guth (Heilpraktiker und Hierologen), die ihre ungewöhnlichen wie erfolgreichen Therapien dem reichhaltigen Fundus altägyptischer Schriften, der Anthroposophie und dem MSD-Manual entnahmen, geriet ich in das Schweizer Sanatorium W. (der genaue Name tut nichts zur Sache) für Neurastheniker, Stoffwechselpsychosen und andere seelische Verstimmungen, dem ein Dr. Spoerri vorstand, dessen Spezialität die Migräne war.
    Ich selbst hatte keinen spezifischen Schaden; ich litt an kleinen Gedächtnisstörungen, was Zahlen betraf, kurzen Absencen, Kopfschmerzen und an chronischer Schlaflosigkeit, also durchaus harmlosen Defekten, an denen ein jeder vernünftige Mensch in diesen Zeiten laboriert.
    Nachdem ich Dr. Spoerri die Grüße aus Berlin ausgerichtet hatte, wurde ich in einem kleinen Apartment einquartiert – ein Zimmer, ein Bad, mehr nicht, für meine Bedürfnisse ausreichend – mit Blick, wie man mir sagte, auf den Piz Michel, Höhe unbekannt; ich habe auch keine Ahnung, in welchem Kanton das Sanatorium W. liegt. Ich dankte der Doppelpraxis mit einer farbigen Postkarte – Blick auf den Piz Michel-, und schrieb –:
Endlich im Sanatorium bei Ihrem Dr. Spoerri, guter Mann, gute Aura, fühle mich schon sehr viel wohler.
Herzliche Grüße, bitte auch an Miriam.
Der Ihre. Arthur Singram.
    Miriam war eine riesige dänische Dogge, die ich in vier Sitzungen in meiner Tierheilpraxis (das Gründungsdatum ist mir entfallen) von ihrer Idée fixe heilte, die Außenwelt sei ihr feindlich gesonnen. Die Herren Wolzan & Guth entdeckten, dass Miriam sich ungern bewegte, d.h., wenn sie sich überhaupt bewegte, dann mit geschlossenen Augen, was Konflikte mit Möbeln und Menschen mit sich brachte; ich fand heraus, welchem Wahn sie anhing – sie fürchtete sich panisch vor nackten Holzböden, Linoleum, kurz vor jeder Fläche, die nicht mit einem Teppich versehen war, als handele es sich um einen Abgrund –, und sie fürchtete wie die Pest Asphalt, ja die ganze Terra firma ohne Teppiche. Legte man ihr Teppiche, Brücken und kleine Läufer unter die Pfoten, funktionierte alles; kaum sah sie nackten Boden – man kann nicht überall Teppiche auslegen –, ging sie keinen Schritt weiter, sie zitterte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
    Spaziergänge (das sog. Gassi-Gehen) waren unmöglich, so dass die beiden Therapeuten ihren Garten hinter der Praxis mit Teppichen von Ikea auslegten.
    Wolzan/Guth vermuteten, mit ihrem Karma sei etwas nicht in Ordnung. Ich diagnostizierte eine Hypersensiblität, der die Herren nach einiger Zeit zustimmten. Ich riet ihnen, ausschließlich grüne Teppiche anzuschaffen, moosgrüne und grasgrüne Teppiche. Ich sagte ihnen, ich verstände es sehr gut, dass hypersensible Tiere wie Miriam überall auf der Welt Abgründe witterten, in die man stürzen könne; sie habe absolut recht.
    Ach, schöne Erinnerungen an gute Zeiten.
    Ich ließ mir einen Schreibtisch bringen und packte ein paar Bücher aus und meine drei Manuskripte, an denen ich arbeiten wollte.
    Da lagen nun meine Projekte in grauen, schwarzen und roten Leinenmappen – ich schaue sie mir immer mal wieder gern an –, da war die Geschichte des Schwachsinns (schwarze Mappe), ein sehr gutes, noch nicht in Angriff genommenes Werk, viel Material, ein Konvolut, würde wohl nie zu einem Ende kommen. So war’s dann auch.
    In der roten Mappe schlummerten meine mannigfachen Fallstudien als Heilpraktiker und Tierheilpraktiker (ich hatte zwei Fernlehrkurse an einer Schweizer Akademie absolviert); in der grauen warteten andere Projekte, darunter eine immer mal wieder vertagte Arbeit über Die letzten Jahre Tolstojs (Tagebuch-Schreibzwänge und andere Familienphänome), und endlich war da mein Tagebuch, das hier im Sanatorium aktualisiert werden sollte; es würde mich bestimmt tonisieren und meinen zerrütteten Nerven helfen, die Vergangenheit systematisch zu kontrollieren. Die Tagebücher oder Kladden von Großvater Edward Singram ließ ich vorerst in der Tasche.
    Der Tagesablauf funktioniert schon recht gut; die Mahlzeiten lasse ich mir bringen: leichte Diät, kein Fleisch, kein Alkohol, keine Zigaretten, viele Spaziergänge zwischen Lärchenhainen und Koniferen, wenn es welche sind, wer weiß.
    Innenstatus stabil.
    Wetter leidlich.
    Keine Kontakte, hin und wieder Plauderei mit Spoerri.
    Nehme den milden Stimmungsaufheller Dogmatil, hin und wieder im Wechsel Fluoxetin (anregend) und
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