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Das Rätsel der Fatima

Das Rätsel der Fatima

Titel: Das Rätsel der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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    Dr. Beatrice Helmer saß zusammen mit ihren Kollegen der chirurgischen Abteilung in einem kleinen, mit dichten Vorhängen abgedunkelten Raum. Das milchig weiße Licht eines großen Leuchtkastens ergoss sich über die Köpfe der Ärzte. Es war still. So still, dass man einschlafen konnte, wenn man nicht aufpasste. Und selbst die unbequemen wackligen Plastikstühle, auf denen die Chirurgen so dicht nebeneinander saßen, dass sie sich beinahe an den Schultern berührten, konnten daran nichts ändern. Sie waren zur täglichen Besprechung der Röntgenbilder zusammengekommen. Röntgenvisite – allein das Wort provozierte ein Gähnen.
    Beatrice streckte ihre Beine aus und versuchte eine bequemere Sitzposition zu finden. Es war bereits nach fünf Uhr. Offiziell hatte sie seit über einer halben Stunde Feierabend. Sie war müde, sie war erschöpft, ihre Beine taten weh, und Rückenschmerzen hatte sie auch. Auf der chirurgischen Notaufnahme war heute wieder einmal viel los gewesen. Seit sieben Uhr morgens war sie zwischen Betten, Liegen und Untersuchungsräumen hin und her gerannt, hatte Frakturen gerichtet, Bäuche abgetastet, Angehörige beruhigt und in unmöglichen Haltungen über Patienten gebeugt Platzwunden genäht. Solche Tage sind für jeden Arzt anstrengend. Aber sie war mittlerweile in der dreißigsten Woche schwanger. Obwohl sie es oft nicht zugeben wollte – nicht einmal vor sich selbst –, forderte die Schwangerschaft doch zunehmend ihren Tribut. Sie war einfach nicht mehr so belastbar. Kreuzschmerzen, dicke Füße. Und diese Fressattacken…
    Beatrice unterdrückte ein Gähnen. Sie wollte endlich nach Hause, sich auf ihr Sofa setzen, ein bisschen fernsehen und dann ins Bett gehen. Stattdessen saß sie hier und sah sich Röntgenbilder an, die sie überhaupt nicht interessierten. Die Röntgenvisite verzögerte nicht nur den wohlverdienten Feierabend, auch für jene Kollegen, die anschließend noch ihren Nachtdienst antreten mussten, war sie ein Ärgernis, eine lähmende Unterbrechung des Tagesablaufs. Anschließend brauchte es mehr als eine Tasse starken Kaffee, um wieder wach zu werden und sich auf die Arbeit konzentrieren zu können.
    Unter den fast zwei Dutzend anwesenden Ärzten gab es wohl nur einen, der diese Veranstaltung zu genießen schien – der Radiologe selbst. Der kleine rundliche Mann mit dem schütteren grauen Haarkranz und der großen Brille behandelte die Röntgenbilder, als wären es Kunstwerke von unschätzbarem Wert. Sorgfältig und behutsam hängte er eins nach dem anderen auf, wartete geduldig auf die dazugehörige Patientengeschichte, um dann eine detaillierte, langatmige Schilderung des Befunds zu liefern. Immer wieder hob er die Feinheiten und die Details der Aufnahmetechnik hervor. Und wenn eine Aufnahme besonders gelungen war oder er gar Bilder vom neuen Magnetresonanztomographen zeigen durfte, geriet der kleine Mann regelrecht in Ekstase. Dann begannen seine Augen hinter den dicken Brillengläsern zu funkeln, der Drehstuhl drehte sich ausgelassen von rechts nach links, und seine sonst eher träge Stimme überschlug sich vor Begeisterung über die Fortschritte der Medizin. Leider stand er mit dieser Begeisterung allein. Die Chirurgen hatten kein Interesse an den raffinierten technischen Details, und der Blick für die Ästhetik der Radiologie fehlte ihnen ganz. Sie waren mit einfachen, knappen Antworten zufrieden. Sie wollten Aussagen, die ihnen zum Beispiel die Entscheidung erleichtern konnten, ob ein Patient operiert werden sollte oder nicht. Für umständliche Erklärungen der »Fotografen« hatten sie keine Zeit. In den Augen der Radiologen waren Chirurgen dagegen nichts anderes als grobschlächtige, ungebildete Handwerker, Nachfahren der mittelalterlichen Bader, denen das Gefühl für die wesentlichen und wichtigen Inhalte der Medizin fehlte. Allerdings war die Meinung der Chirurgen über ihre Kollegen aus der radiologischen Abteilung ebenso wenig schmeichelhaft.
    Doch selbst die längste Röntgenvisite hat irgendwann ein Ende. Der Radiologe war fertig und befreite die Chirurgen mit einem »Ich wünsche noch einen ruhigen Abend!« von dieser lästigen, ungeliebten Pflichtveranstaltung.
    Schwerfällig erhob sich Beatrice. Sie hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand Bleikugeln an die Beine gebunden.
    »Endlich vorbei!«, sagte sie zu Frank, der neben ihr gesessen hatte. Er war Student im praktischen Jahr und arbeitete seit Anfang der Woche auf der
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