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Das Rätsel der Fatima

Das Rätsel der Fatima

Titel: Das Rätsel der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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stabil, keine lebensbedrohlichen Verletzungen – Schürfwunden, zwei Knochenbrüche, die noch auf das Röntgen warten, einen Verdacht auf Appendizitis, eine Nierenkolik. Lediglich ein Patient macht mir ein bisschen Sorgen. Es handelt sich um einen siebzigjährigen Mann mit Fraktur der sechsten Rippe rechts nach Sturz. Er ist ziemlich aufgeregt und klagt über Atemnot. Laut Röntgenbild kann das nicht von dem Bruch herrühren, wenn man mal von den Schmerzen absieht. Es liegt kein Pneumothorax vor, und die Fraktur ist nicht disloziert. Aber seine Frau sagte, er sei herzkrank – Angina pectoris. Schwester Susanne schreibt gerade ein EKG, und jeden Augenblick müsste ein Internist zum Konsil hier auftauchen. Ich hoffe, dass die ihn danach übernehmen. Ansonsten…« Er zuckte mit den Schultern und schwieg.
    Auch Beatrice sagte nichts mehr. Plötzlich herrschte eine seltsame Stille in der Notaufnahme. Es war eine Stille, die zwar vor Anspannung knisterte, gleichzeitig jedoch wurde es ruhig. Die Welt schien fast meditativ ihre Aufmerksamkeit auf zwei Funktionen zu richten – Herzschlag und Atmung. Es war eine Atmosphäre, der sich niemand entziehen konnte, und Beatrice genoss es jedes Mal. Sogar die anderen Patienten sagten nichts mehr, und auf dem breiten Flur wurde nur noch geflüstert. Jeder hier versuchte sich auf das vorzubereiten, was gleich auf sie alle zukommen würde – die Hektik, der Stress beim Kampf um ein Leben, der schreckliche Anblick von Schwerstverletzten.
    Beatrice warf einen Blick auf die große Wanduhr, die direkt über dem roten Telefon hing. Der Weg vom Hamburger Hauptbahnhof zum Krankenhaus war nicht weit. Die beiden Notarztwagen müssten jeden Augenblick eintreffen.
    Und tatsächlich, genau in diesem Moment spiegelte sich in den Glastüren das blinkende Blaulicht eines heranfahrenden Notarztwagens und direkt dahinter noch ein zweites Licht. Die Schwestern öffneten die breiten Flügeltüren, um die Sanitäter und die Notärzte durchzulassen. Es regnete, und die feuchte Nachtluft wehte herein. In solchen Momenten war es nur schwer vorstellbar, dass es da draußen noch eine andere Welt gab. Eine normale Welt, in der Männer und Frauen in Restaurants oder ins Kino gingen, sich im Theater oder zu Hause mit der Familie vor dem Fernseher amüsierten. Normalität. Für Notfallärzte und Unfallchirurgen war dies gleichbedeutend mit der Suche nach dem Heiligen Gral. Viele hatten die Suche schon lange aufgegeben. Und für die anderen blieb er unerreichbar. Normal waren da eher Scheidungen, Alkohol, Einsamkeit. Beatrice schloss die Augen und atmete tief durch. Dann wurde die erste Trage hereingeschoben.
    Eine Stunde später war es vorbei. Beatrice sank auf das abgewetzte Ledersofa im Aufenthaltsraum und nahm dankbar den Becher mit Kaffee entgegen, den Heinrich ihr reichte. Seit ihrer Schwangerschaft verzichtete sie zwar weitgehend darauf, dem Kind zuliebe, aber manchmal brauchte sie es, dieses schwarze Lebenselixier, um weiterexistieren zu können. Das Adrenalin hatte ihren Körper und Geist in Funktion gehalten und sie zu Hochleistung angetrieben. Jetzt, da der Spiegel des Stresshormons in ihrem Blutkreislauf zu sinken begann, blieben nur noch Erschöpfung und Müdigkeit. Eine Leere breitete sich im Innersten aus, keine Zufriedenheit, kein Stolz. Man hatte einfach seinen Job getan. Trotzdem beschäftigte sich ihr Geist immer noch mit dem Verletzten, ging jeden einzelnen Handgriff, jede Maßnahme der vergangenen Stunde durch. Hatte sie alles richtig gemacht? Hätte sie irgendetwas anders, vielleicht sogar besser machen können, um die Chancen des Patienten zu erhöhen? Beatrice sah die blutige Kleidung vor sich, die sie von dem Schwerverletzten heruntergeschnitten hatte, die zertrümmerten Knochen und zerquetschten Muskeln. Sie hatten zeitweise nicht gewusst, welche Gewebeteile wohin gehörten. Schließlich hatten sie die Knochenstücke in acht beschriftete sterile Plastiktütchen getan, damit man sie im OP wiederfand. Immer neue Blutkonserven hatten sie anhängen müssen, und schließlich war es Beatrice und dem Anästhesisten gemeinsam gelungen, den Mann zu stabilisieren. Jetzt wurde er operiert. Ein Bein musste amputiert werden. Ob das andere noch zu retten war, würde sich in den nächsten Tagen herausstellen – wenn er es denn überlebte.
    Der andere Mann, sein unglücklicher Helfer, lag bereits auf der Intensivstation. Auf den ersten Blick schien er wenig verletzt. Die Brandwunden an den Eintritts-
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