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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee
Autoren: Stefanie Zweig
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zu. Er lief langsam, dieser selbstständige, aufmüpfige, gescheite Sechzehnjährige. Er tat so, als müsse er seine Schritte zählen, starrte auf seine schwarzen Stiefel wie einer, der sein Lebtag vom Leben geduckt worden ist, doch als er seinem Vater die Hand hinstreckte, hielt er den Kopf hoch.
    Sie waren beide verlegen, unsicher, einander fremd und doch für immer aneinandergeschmiedet, denn der eine war der Sohn und der andere der Vater. Sie waren darauf bedacht, das rechte Wort zu sagen, es richtig zu betonen, jede Fehldeutung, jede Unterstellung zu vermeiden. Ein jeder gab acht, den anderen nicht zu verletzen, ihn nicht herauszufordern, den feinen Faden nicht zu zerschneiden, der sie miteinander verband.
    Vater und Sohn hatten sich ihr Leben lang nicht zufällig getroffen. Die Berührungspunkte ihrer Begegnungen waren vorgegeben, waren auf die Wohnung, die Synagoge und gelegentlich auf das Wohnzimmer von elterlichen Freunden beschränkt. Die kleinen Kinder gingen mit den Eltern in den Zoo, fütterten sonntags die Enten im Weiher am Ostpark, zählten mit dem Herrn Papa die Einschüsse von der Blechfahne am Eschenheimer Turm und mit der Frau Mutter die Klicker, die sie beim Murmelspiel im Park gewonnen hatten. Und waren diese Kinder alt genug, um die Eltern nicht mit schlechten Manieren zu blamieren, durften sie mit ihnen zu einem besonderen Anlass ein Stück Frankfurter Kranz im Café Bräutigam essen und zur Weihnachtszeit mit der Mutter »Peterchens Mondfahrt« oder »Hänsel und Gretel« im Opernhaus anschauen. Konvention und Gewohnheit legten die Rollen von Bürgersöhnen und höheren Töchtern fest. Die Eltern führten das Wort, die Kinder hatten zuzuhören; der Vater befahl, die Kinder gehorchten.
    »Wo kommst du her?«, fragte Johann Isidor, nachdem sie sich begrüßt und ein paar Minuten lang von der für November ungewöhnlichen Kälte gesprochen hatten.
    »Von zu Hause«, antwortete Erwin. Er fuhr sich mit einem zerknüllten Taschentuch über die Stirn. Der Schreck war schon während der meteorologischen Erörterungen abgeebbt, nur die Lippen waren noch steif.
    »Woher hast du von der Versammlung hier gewusst? Ich meine, wir haben doch nie über so etwas gesprochen.«
    »Wir nicht«, sagte Erwin. Er traute sich tatsächlich, das erste Wort zu betonen. Ganz wenig, ohne zu provozieren, nur um der Wahrheit willen. »Aber ich bin schon seit zwei Jahren in der Jugendgruppe der Gemeinde. Da reden wir viel über solche Dinge.«
    War sein Blick denn wie immer? Grinste er etwa wie bei Tisch, wenn Clara ihm Rückhalt signalisierte? Rebellierte dieser frühreife Knabe, und wenn er rebellierte, gegen wen? War er nicht immer verschlossener gewesen als sein Bruder, sich selbst genug? Und nun war er erwachsen geworden, ohne dass der Vater es gemerkt hatte. Die Zeit raubte einem nicht nur den Lebensmut, sie nahm einem Mann auch die eigenen Kinder.
    »Es tut mir leid für dich, Vater«, sagte Erwin.
    »Was meinst du?«
    Johann Isidors Augen flackerten die Ratlosigkeit, der kein Vater von heranwachsenden Söhnen entkommt. Er aber erlebte es zum ersten Mal, dass ein Sohn ihn verwirrte und es wagte, den Vater in das tiefe schwarze Loch zu stoßen, das er mit der Kraft und der Unverfrorenheit ausgehoben hatte, die nur den Jungen gegeben ist. Otto war nie ein Rebell gewesen, er hatte nicht zu früh wissen wollen, was in der Welt geschah. Otto hatte seinen Platz im Leben gekannt. Er hatte seinem Vater nicht den Boden entzogen, auf dem er stand. Seine Pflicht – nicht mehr und nicht weniger – hatte Johann Isidors Ältester getan. Ohne viel zu fragen und ohne zu zögern. Otto war der Sohn gewesen, den sich ein Vater wünschte.
    »Die ganze Sache mit der Judenzählung und so«, nahm Erwin das Gespräch wieder auf. »Es muss doch schlimm für dich sein. Du hast doch an Deutschland geglaubt. Wahrscheinlich denkst du jetzt noch, die Leute werden die Judenzählung verurteilen und uns vor den Dreckschleudern der Antisemiten verteidigen. Aber ich bin nie ein Optimist gewesen.«
    »Um Himmels willen, du bist doch erst sechzehn. In deinem Alter hat man noch keine Meinung zu haben. Bringen sie euch die Schwarzseherei in der Jugendgruppe bei?«
    »Nein, in der Gruppe habe ich nur das Denken gelernt. Und die Augen aufzumachen. Und zu sagen, was ich denke.«
    »Das, mein Sohn, hast du schon immer getan. Weiß eigentlich deine Mutter, dass du in diese Gruppe gehst?«
    »Nein, meine Schwester.«
    »Welche? Du hast, glaube ich,
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