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0050 - Der Stein des Satans

0050 - Der Stein des Satans

Titel: 0050 - Der Stein des Satans
Autoren: Susanne Wiemer
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plastischen, realen Szenen wirkten wie eine Illustration zu Leonardos unseligem Leben.
    Das Gesicht des »Schrecklichen« war unbewegt und eigentümlich entrückt wie das eines Schlafenden.
    Nicole kniff die Lider zusammen, musterte fasziniert die Züge des Bildnisses. War das der gleiche Mann wie auf dem Porträt in der Ahnengalerie? Sicher – obwohl der Gegensatz beinahe schroff wirkte. Nicole hatte finstere, verbissene Züge mit düsteren Augen in Erinnerung – jetzt sah sie ein noch junges Gesicht mit langer, schmaler Nase, sensiblen Lippen und dunklen, träumenden Augen unter einer hohen Stirn. Ein klares Gesicht. Seltsam rein – noch nicht gezeichnet von den Mächten des Bösen. Leonardos Hände ruhten auf dem schimmernden Griff eines Schwertes – und um seinen Hals hing an einer dünnen Kette ein Gegenstand, den Nicole erst jetzt bemerkte.
    Das Amulett!
    Das silberne Amulett mit dem Drudenfuß, den Tierkreiszeichen und den geheimnisvollen Symbolen und Hieroglyphen.
    Leonardo hatte es mitgebracht von dem Kreuzzug. Sein Eigentum war es. Selbst auf dem Gemälde schien es noch von rätselhaftem Leben erfüllt und…
    »Na also!«, durchbrach Bill Flemings Stimme die Stille.
    Er hatte eine jähe Bewegung gemacht, sich losgerissen aus dem Bann der Faszination, der auch ihn für einen Moment gelähmt hatte.
    Jetzt setzte er sich entschlossen in Bewegung, durchmaß den Raum und griff mit beiden Händen nach dem Deckel der Truhe.
    Er ließ sich leicht abheben.
    Es gab keine Schlösser, keinen geheimen Mechanismus – nichts.
    Nur die Scharniere quietschten leise. Nicole trat rasch hinzu, richtete die Taschenlampe auf den Inhalt der Truhe – und musste einen überraschten Aufschrei unterdrücken.
    Gold glänzte auf.
    Hundertfach brach sich das Licht im edlen Schliff kostbarer Steine.
    Blutrot leuchteten Rubine, tiefgrüne Smaragde funkelten, seidiger Perlmuttglanz hob sich ab von den klaren Blautönen der Aquamarine und Saphire – und heller als alles andere sprühte und glitzerte das kalte, klare Feuer eines großen Brillanten, den feines Goldfiligran wie die Zacken eines stilisierten Sternes einfasste.
    Der ›Stern des Morgenlandes‹!
    Jenes sagenhafte Kleinod, von dem die Chronik berichtete, das Leonardo de Montagne dem Kalifen Achman geraubt hatte und das ihm zum Fluch geworden war.
    Es lag da…
    Unbezweifelbar und real.
    Zwei, drei Sekunden lang starrten die beiden Menschen wie geblendet in die offene Truhe – aber als Bill Fleming die Hand nach dem Brillanten ausstrecken wollte, verharrte er jählings mitten in der Bewegung.
    Ein hoher, singender Ton hing plötzlich im Raum.
    Irgendetwas bewegte die Luft wie der Flügelschlag unsichtbarer Schwingen – und dann erhob sich laut und hallend eine Stimme.
    »Verflucht ist der Stein«, rief es. »Verflucht ist der ›Stern des Morgenlandes‹, und verflucht ist jeder, der seine Hand danach ausstreckt. Jahrhundertelang schmachtete meine Seele in Finsternis und Verbannung. Verdammt bin ich, in unseliger Ruhelosigkeit zu verharren, bis der Stein zurückkehrt ins Land des Propheten. Jahrhundertelang wartete ich. Jahrhundertelang harrte ich der Befreiung. Jetzt seid ihr hier! Ihr werdet meine Boten sein, ihr werdet meinen unseligen Geist erlösen…«
    Die Stimme schwieg, verhallte in singendem Tremolo.
    Nicole spürte einen eisigen Schauer auf dem Rücken. Wie versteinert hatte sie dagestanden, gebannt von den dunklen Worten – und jetzt erst hob sie langsam den Blick.
    Das Bild an der Wand hatte sich verändert.
    Im ersten Moment konnte sie nicht erkennen, worin die Änderung bestand – und dann begriff sie in einer Mischung aus Entsetzen und tiefem Staunen, dass es die Augen waren. Augen, die eben noch wie die eines Träumenden ins Leere geblickt hatten – und die jetzt von einem glühenden, unnatürlichen Leben erfüllt waren, auf Nicoles Gesicht hafteten und bis auf den Grund ihrer Seele zu sehen schienen.
    Erneut erhob sich die körperlose Stimme.
    Eine Stimme, die von den Wänden widerhallte und von überall gleichzeitig zu kommen schien:
    »Ihr werdet mich erlösen. – Ihr werdet durch das dunkle Tor treten und eine Reise machen ins Land der Finsternis und in den Abgrund der Zeit. – Meine Boten seid ihr, meine Abgesandten. – Kommt zu mir! – Kommt zu mir in meine Welt. – Kommt… kommt…«
    Die Stimme klang dunkel, raunend, beschwörend. Wie unsichtbare Pfeile schienen die Worte in Nicoles Geist einzudringen. Sie sah nicht mehr die Umgebung,
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