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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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es überhaupt erst möglich, sich allmählich zu bessern. Genau wie bei anderen Alkoholikern bestand meine Ohnmacht darin, inbrünstig das Versprechen abzulegen, am Abend nicht mehr zu trinken, oder nächstes Wochenende oder irgendwann einmal, obwohl es nicht in meiner Gewalt stand, diesen angeblichen Entschluss durchzuhalten. Die Sucht ist ein starker Gegner, der nur zu besiegen ist, indem man sich ins Zeug legt und sich seine eigene Schwäche eingesteht. Schon bevor ich in den Entzug ging, hatte ich über die Ohnmacht nachgedacht, und ich glaube, dass ich den ersten Schritt der Lehre ganz gut im Griff habe. Ich murmle ihn immerzu vor mich hin, um mit ihm in Gedanken einzuschlafen.
    Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten.

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Zweites Kapitel Glaube
    Ich starre auf die Fotos der Leiche und kann nicht glauben, dass das die Überreste eines Mannes sein sollen, der vor kurzem noch gelebt hat. Es kommt mir vor, als hätte ich ein Foto einer Theaterkulisse oder einer Installation im Nýlistasafn, dem Museum für zeitgenössische Kunst, vor mir. Der Mann ist an ein riesengroßes Holzkreuz an der Wand geschlagen, der Kopf hängt über der Schulter, die Beine sind verschränkt, und Nägel bohren sich durch Hände und Füße. Er trägt nur eine Unterhose, am Oberkörper klafft an der Seite eine Wunde, ein Kranz aus Stacheldraht thront auf seinem Kopf, Blut ist über sein Gesicht, über seinen Körper und die weiße Wand geflossen. Ein großes Gemälde von Tolli neben der Leiche lässt die Inszenierung noch unwirklicher erscheinen. Auf dem Gemälde ist ein Berg zu sehen, umgeben von einem stillen Himmel mit vereinzelten Wolkenfetzen. Es hat den Anschein, als hätte jemand diese Wanddekoration mit höchster Präzision angebracht, um sich an der Vollkommenheit der Darstellung zu erfreuen. Uns ist der Appetit vergangen, und die Brötchen, die ich heute Morgen in der Bäckerei geholt habe, liegen unberührt auf dem Tisch. Iðunn nippt von Zeit zu Zeit an ihrem Tee, mein Kaffee dagegen wird kalt.
    «Das ist mein erster Mordfall», sagt sie, und ich kann nicht erkennen, was in ihrer Stimme überwiegt, Stolz oder Angst.
    «Was für ein Mensch macht so was?», sage ich und stöhne auf. Während ich mir die Fotos anschaue, empfinde ich statt Mitleid mit dem Toten nur noch Ekel und Befremdung. Als ob meine Seele betäubt wäre und der Körper die Aufgabe übernähme, die Reaktionen angesichts dieser unendlichen Grausamkeit zum Ausdruck zu bringen, die dafür verantwortlich war, dass einem Menschen derart übel mitgespielt wurde. Mir wird schlecht.
    «Ich muss herausfinden, was passiert ist», sagt Iðunn. «Im Moment haben wir keine Hinweise.» Sie nimmt die Bilder und steckt sie wieder in die braune Mappe. Ich bin erleichtert, dass ich sie nicht länger betrachten muss, und nehme einen Schluck kalten Kaffee.
    «Ich bin für dich da, wenn ich dir irgendwie helfen kann», sage ich und hoffe, dass sie mir mit ihrer Bitte gestern im Auto signalisieren wollte, dass sie jemanden braucht, dem sie vertrauen und mit dem sie reden kann, vielleicht braucht sie auch eine Schulter, um sich auszuheulen.
    «Danke. Ich benötige tatsächlich deine Hilfe», sagt sie und holt tief Luft. Es ist ziemlich offensichtlich, dass sie keine Schulter zum Ausheulen braucht, und ich spüre, wie mir ein Angstschauer über den Rücken läuft.
    «Das Opfer war ein trockener Alkoholiker und Mitglied der Anonymen Alkoholiker. Er war seit fünf Jahren abstinent und besuchte einmal die Woche ein Meeting. Ich wollte dich bitten, zu den Versammlungen zu gehen und Augen und Ohren offen zu halten», erklärt sie, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt.
    «Aber Iðunn, ich bin erst gestern aus dem Entzug entlassen worden!», antworte ich erregt, ich bin verwirrt. «Ich bin erst bei einem einzigen Meeting gewesen! Du findest bestimmt jemand, der erfahrener ist als ich, oder du gehst einfach selber hin. Du brauchst ja nichts zu sagen.»
    «Erstens muss es ein Mann sein, da er viele Männermeetings besucht hat, zweitens bringt es nichts, wenn jemand dort herumschnüffelt, von dem alle wissen, dass er Polizist ist, und drittens musst du sowieso zu diesen Meetings. Das hält dich bei der Stange.»
    Ich würde sie am liebsten anschnauzen und ihr sagen, dass es nicht gerade angebracht ist, bei diesen Meetings an etwas anderes zu denken als an seine eigene Genesung, aber ich
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