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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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glitzern Tausende winzig kleiner Eiskristalle im Schein der Straßenbeleuchtung wie Sterne. Das Zentrum von Reykjavík würde in Bezug auf seine städtebauliche Planung oder sein architektonisches Design niemals einen Preis verliehen bekommen, aber es verfügt über einen eigenen unvergleichlichen Liebreiz, der sich eher durch Charme als durch Eleganz auszeichnet. Einzelne dreistöckige Steinbetonhäuser in uneinheitlichen Baustilen überragen die ansonsten ein- oder zweigeschossigen Holzhäuser, die sich aneinanderkuscheln, als ob sie Schutz vor der Winterkälte suchten. In den meisten Fenstern ist ein Licht zu erkennen: ein flackernder Fernseher, eine Kerze auf dem Tisch oder eine Lampe auf dem Fensterbrett werfen ihren Schein auf das Wellblech des benachbarten kleinen Holzhauses. Die meisten Isländer gehen spät ins Bett, was praktisch ist, da ich Egill ja noch anrufen muss und es schon fast elf ist.
     
    Eigentlich hat Egill mich dazu gebracht, einen Entzug zu machen. Nicht nur dass wir mit einem saufenden Vater aufgewachsen sind, auch die ungünstige Erbanlage hat uns Brüder anfällig für den Alkohol gemacht. Wobei Egill schon immer das schwarze Schaf war, von dem alle wussten, dass er trank, und zwar nicht zu knapp. Seit seiner Jugend konsumierte er jegliche Drogen, die er nur kriegen konnte, und in den letzten Jahren hat er eigentlich auf der Straße gelebt. Alle, die ihn vorher schon kannten, verriegelten ihre Türen und hielten ihre Brieftasche geschlossen. Das reichte allerdings nicht aus, denn er stahl ohne Skrupel. Im Vergleich zu Egill verhielt ich mich geradezu vorbildlich. Egal, wie viel ich soff, er trank noch heftiger, und ich benutzte ihn als eine Art Rechtfertigung, um an meiner Sauferei festzuhalten. Doch dann hörte Egill vor ein paar Monaten mit dem Trinken auf. Er bedrängte mich sofort und hielt mir lange Standpauken über die Notwendigkeit, dass auch ich mit der Zecherei aufhören müsse, und die Gründe, die er aufführte, klangen tatsächlich überzeugend: Meine Frau hatte mich verlassen, ich trieb mich jeden Abend sturzbetrunken in der Stadt herum, wobei sich die Rechnungen unangenehm häuften, da ich wegen meines Alkoholkonsums nicht gerade viele Übersetzungen zustande brachte. Die Standpauken taten ihre Wirkung. Ich trank mit immer schlechterem Gewissen, und an schwierigen Tagen dachte ich ernsthaft daran, mit dem Trinken aufzuhören. Den endgültigen Entschluss, mir Hilfe zu suchen, fasste ich aber erst, nachdem sich Egills Freund Aðalsteinn zu Tode gesoffen hatte. Auch wenn Aðalsteinn bloß ein Bekannter von mir gewesen war, den ich nie richtig gemocht und der in meinen Augen einen schlechten Einfluss auf meinen kleinen Bruder gehabt hatte, so war es doch eine erbärmliche Tragödie, im Vollsuff unter einer Hecke zu erfrieren. Egill war nach dem Tod seines Freundes sehr niedergeschlagen, besonders weil es ihm kurz vorher noch gelungen war, ihn zu einigen Meetings mitzuschleppen, und er war voller Hoffnung gewesen, dass Aðalsteinn ebenfalls mit der Sauferei aufhören würde. Drei Tage nach einem Meeting fand ein Hund beim Spaziergang mit seinem Herrchen im Park Miklatún die hartgefrorene Leiche, die sich an eine angebrochene Flasche klammerte. Das versetzte mir einen derartigen Schock, dass ich mich endlich dazu durchrang, einen Entzug zu machen.
     
    Egill ist froh, von mir zu hören, und schlägt vor, dass wir morgen zusammen zu einem Meeting gehen und anschließend etwas kochen. Ich grinse vor mich hin, da ich weiß, was es bedeutet, mit Egill zu kochen: Ich koche, während er drauflosplappert und andauernd aus den Kochtöpfen nascht. Ich freue mich darauf, mit ihm Zeit zu verbringen, jetzt wo wir beide trocken sind. Als ich mich von meinem kleinen Bruder verabschiede, wird mir ganz warm ums Herz vor Zuneigung.
     
    Ich genehmige mir eine Riesenportion Eis mit Sauce und Waffeln. Im Entzug habe ich mich daran gewöhnt, nie hungrig zu sein, und will mir die neu erworbene Gepflogenheit bewahren, mich abends mit etwas Leckerem zu verwöhnen. In gewisser Weise überraschen mich meine neuen, seltsamen Angewohnheiten, da es für mich vorher nichts Selbstverständlicheres gegeben hat, als es mir mit einem Sixpack auf dem Sofa bequem zu machen und dort einzunicken. Jetzt verhätschle ich mich wie ein kleines Kind, genehmige mir im Schlafanzug ein abendliches Betthupferl, bürste mir anschließend die Zähne und lese im Bett ein Buch. Ich lese über die Ohnmacht, sie zu erkennen macht
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