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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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halte den Mund. Das Gefühl, dass ich ihr etwas schuldig bin, ist zu stark, diese Art von Egoismus kann ich mir nicht leisten.
    «Ich bin kein Geheimagent, Iðunn. Du weißt, dass ich nicht der Typ bin, der Leute verhört, und zudem habe ich keine guten Nerven, wenn Gefahr droht.»
    «Du sollst dich nicht in Gefahr begeben, mein lieber Magni, sondern lediglich die Augen offen halten und mich wissen lassen, ob dir ein oder mehrere Verdächtige auffallen oder dir Gerüchte zu Ohren kommen.» Die Worte
mein lieber Magni
lassen jeglichen Widerstand dahinschmelzen, und als ob sie es spürt, fügt sie sofort hinzu: «Aber der Hauptgrund, warum ich zu dir komme, ist, dass ich dir vertrauen kann.»
    «Sind das anerkannte Arbeitsmethoden bei der Kriminalpolizei, ehemalige Partner in die Ermittlungen mit einzubeziehen?», frage ich schließlich, ohne jegliche Hoffnung, dass dieser letzte Strohhalm mir aus der Klemme helfen könnte.
    «Ja, wir arbeiten mit Informanten und anderen Leuten zusammen, die uns behilflich sein können, und mein Vorgesetzter hat diese Maßnahme gutgeheißen.»
    Informanten. Was für eine seltsame Berufsbezeichnung. Sie ist offensichtlich davon ausgegangen, dass ich zusagen würde, denn sie hat eine Schweigepflichterklärung vorbereitet, in der es heißt, dass ich zur Verschwiegenheit verpflichtet bin in Bezug auf das, was ich während der Zusammenarbeit mit der Polizei erfahre. Obwohl mich meine innere Stimme zur Vernunft aufruft, unterschreibe ich. Ich weiß nicht, ob ich es aus schlechtem Gewissen Iðunn gegenüber tue, da ich mich ihr gegenüber verpflichtet fühle, oder ob ich einen klitzekleinen Hoffnungsschimmer in meiner Brust verspüre, weil ich nun Gelegenheit habe, sie häufiger zu sehen.
     
    Das Haus ist eines dieser neumodischen Häuser mit schrägem Dachfirst, es erinnert mich an ein Schiff und ist riesengroß. Die eine Hälfte besteht aus zwei Stockwerken, während die andere über eine doppelte Raumhöhe verfügt. Küche und Wohnzimmer bilden einen großen Raum, in der Mitte steht eine offene Küchenkombination. Der gekreuzigte Mann war offensichtlich nicht nur stinkreich, sondern auch ein Kenner der neuesten Trends im Bereich Innenarchitektur. Die Farbe Weiß dominiert das Innere des Hauses, sodass es zum Teil an eine Arztpraxis erinnert, aber ein wohlplatziertes Gemälde, eine Skulptur in der Ecke und eine Pflanze am Fenster schaffen eine warme Atmosphäre.
    «Es scheint nichts gestohlen worden zu sein», sagt Iðunn und steigt unbefangen über die gelben Absperrbänder und die Kreidestriche auf dem Boden.
    «Wie wollt ihr das wissen, wenn der Besitzer tot ist?», frage ich.
    «Wir haben von der Versicherungsgesellschaft eine Liste über die Wertsachen im Haus erhalten, und zudem haben wir mit seinem Freund, genauer gesagt dem Liebhaber des Verstorbenen, gesprochen.»
    «Dann war er also schwul?», frage ich, und auf einmal erhält die Kreuzigung eine neue Bedeutung.
    «Ja, wir haben den Liebhaber überprüft. Er steht nicht unter Verdacht. Er war im Ausland und ist am Boden zerstört. Er wollte nichts davon wissen, dass der Tote irgendwelche Feinde hatte oder mit jemandem im Streit lag.»
    «Wie hieß der Verstorbene?»
    «Er hieß Jón Ágúst Karlsson, war sechsunddreißig Jahre alt und Architekt.»
    Im selben Augenblick betreten wir das Wohnzimmer, und ich erblicke die Wand, die ich heute Morgen schon auf den Fotos gesehen habe. Die unmittelbar zu greifende Realität dessen, was in diesem Haus geschehen ist, dringt in mein Bewusstsein, und ich verspüre einen schmerzenden Stich im Hals. Das Ganze wird irgendwie noch konkreter, wenn man den Namen des Mannes kennt. Jón Ágúst ist ein derart geläufiger Name, dass man nicht wirklich versteht, warum jemand einen Mann töten sollte, der einen solch alltäglichen Namen trägt. Einen kurzen Augenblick fühle ich mich, als ob ich gleich in Ohnmacht falle, und ich frage Iðunn schnell, ob es in Ordnung ist, wenn ich mich in einen Stuhl in der Wohnzimmerecke setze.
    «Ja, kein Problem, die Ermittlungen im Haus sind schon lange abgeschlossen», antwortet sie und fischt aus ihrer Tasche ein Bonbon und reicht es mir. «Das erhöht den Blutdruck», sagt sie. Ich zerkaue energisch das Bonbon und überlege, ob ich in ihren Augen eine totale Memme bin. Die Leiche ist entfernt worden, aber an der Wand hängt immer noch das riesige Holzkreuz aus dicken, grobgehobelten Balken, das mit einer Betonschraube oben an der Wand direkt unter dem hohen
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