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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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abgelegt. Er ist ordentlich gekleidet, trägt ein gestreiftes T-Shirt und Jeans und riecht gut.
    «Nun gehen wir zu einem richtigen Meeting, Bruder, kein Zögern und Murren mehr», ruft er mir ins Schlafzimmer nach, während ich mich anziehe und den Kamm durch das Haar gleiten lasse.
    Wenige Augenblicke später eilen wir Seite an Seite den Frakkastígur hinunter. Obwohl es noch nicht mal fünf Uhr ist, ist die Sonne schon längst verschwunden, und ein neugeborener Mond spiegelt sich auf der glatten Meeresoberfläche. Gegenüber reflektieren die Schneefelder an den Hängen der Esja das Mondlicht, die in der abendlichen Dämmerung viel näher zu sein scheint.
     
    Das Meeting, das Egill ausgewählt hat, ist um einiges besser besucht als das, auf dem ich gestern war. Über den Daumen gepeilt, haben sich mehr als hundert Leute im Saal eingefunden, und es liegt ein fröhliches Stimmengewirr in der Luft, das ohne Zweifel mit dem niedrigen Durchschnittsalter der Anwesenden zu tun hat. Da und dort fällt mir dennoch ein älteres Gesicht auf, und ich nehme erneut das wahr, was ich schon in Vogur bemerkt habe: dass Alkoholiker unter sich ohne Alter und Klassenzugehörigkeit sind. Ein achtzehnjähriger ehemaliger Junkie plaudert mit einer sechzigjährigen Hausfrau, die der Tablettensucht zum Opfer gefallen war, und man spürt, wie die gemeinsame Erfahrung sie verbindet, sich selbst aufgegeben und schließlich den Mut gefunden zu haben, der eigenen Schwäche ins Auge zu sehen.
    «Ich werde dich dem Pfarrer vorstellen», sagt Egill und zieht mich im Schlepptau in den Saal. «Er ist aber kein richtiger Pfarrer, das ist einfach so eine Art Spitzname, das wirst du später verstehen.» Der sogenannte Pfarrer ist ein schlanker Mann mittleren Alters mit dunklem Haar. Er trägt ein kragenloses Hemd und eine altmodische Uhr.
    «Magni, darf ich dir Geir vorstellen», sagt Egill und schaut dann erklärend zu Geir: «Magni ist mein Bruder und ist gestern aus dem Entzug entlassen worden.»
    «Herzlich willkommen, Magni», sagt Geir und begrüßt mich. Er hat große Hände, und sein Handschlag ist fest und warm, und er schaut mir dabei tief in die Augen. «Ich hoffe, dass wir dir helfen können, den richtigen Weg zu finden.» Sein Lächeln ist warmherzig, und er ist mir auf Anhieb sympathisch.
    «Netter Kerl», meint Egill, als wir uns auf der Suche nach zwei freien Plätzen zwischen den Klappstühlen hindurchzwängen. Das Meeting beginnt Punkt fünf. Eine junge Frau verkündet den Ablauf, was hier wichtiger zu sein scheint als bei den Versammlungen, die ich bisher besucht habe. Sie ruft einzelne Teilnehmer auf und teilt ihnen gewisse Aufgaben zu, unter anderem bestimmt sie einen Zeitwächter, da den Sitzungsteilnehmern jeweils nur eine bestimmte Zeit zum Reden zuerkannt wird. Vermutlich ist ein so strikter Ablauf notwendig, damit in einer derart bunt gemischten Gruppe alles reibungslos ablaufen kann. Nachdem sie das Meeting eröffnet hat, ernennt sie Geir zum Leiter. In dieser Position bekommt er mehr Zeit, um die Diskussion in Gang zu halten. Geir steigt aufs Podest, und da wir uns zuvor begrüßt haben, habe ich das Gefühl, als ob ich ihn persönlich kennen würde. Dadurch fällt es mir leichter, ihm zuzuhören. Er betont, dass der Glaube sehr wichtig für die Genesung sei, und macht deutlich, dass der Verlust des Glaubens in gewisser Hinsicht sogar das wahre Problem des Alkoholikers und möglicherweise sogar die Ursache der Krankheit sei. Das ist ein interessanter Blickwinkel, davon habe ich zuvor noch nie gehört. Aber dieser Punkt stimmt sehr gut mit meinen Erfahrungen überein, die ich mit meinen Leidensgenossen in Vogur gemacht habe: Keiner von ihnen konnte sich in seiner Misere auf einen Glauben stützen. Geir formuliert seine Gedanken sehr eingängig, und es herrscht Grabesstille im Saal, während er spricht, abgesehen von den Lachsalven, die ab und zu ertönen. Er spricht über die Interpretation des Glaubens, wie er im zweiten Schritt verankert ist:
Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann,
und betont, dass die Formulierung
Wir kamen zu dem Glauben
einen großen Unterschied mache, zumal ein Ungläubiger den Glauben nicht einfach so finde, sondern ihn pflegen müsse und dann nach und nach zu glauben anfange. Das ist für mich eine Offenbarung und erfüllt mich mit Optimismus. Obwohl ich die Schritte schon oft gelesen habe, ist die Interpretation neu für
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