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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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Dachfirst befestigt ist. Es reicht bis zum Boden. Das Blut sieht im Tageslicht beinahe schwarz aus und ist über das gesamte Kreuz und zu beiden Seiten über die Wand gelaufen. Links vom Kreuz hängt das Gemälde von Tolli. Die Blautöne und die Tiefe treten stärker hervor als auf den Fotos. Rechts vom Kreuz, etwas nach unten versetzt, hängt ein kleines Gemälde, das ich auf den Fotos nicht bemerkt habe. Es ist ein klassisches Landschaftsbild, offensichtlich eine isländische Landschaft: ein blauer Fjord, eine Landspitze in grüner Umgebung und im Vordergrund graue Steine. Als das Ohnmachtsgefühl verschwunden ist, stehe ich auf und versuche die Signatur zu entziffern, kann aber den Künstlernamen nicht ausmachen.
    «Weißt du, wer dieses Bild gemalt hat?», frage ich Iðunn, und sie schüttelt den Kopf.
    «Warum fragst du?» Sie kommt zu mir und bemüht sich ebenfalls, die Unterschrift zu entschlüsseln.
    «Ich habe mich einfach gefragt, weil er schwul war, ob ihr die Symbolik der Kreuzigung etwas genauer unter die Lupe genommen habt», erwidere ich und versuche, mir die Meldungen über die Beziehung zwischen den Homosexuellen und der Kirche in den letzten Jahren in Erinnerung zu rufen.
    «Hm, das meinst du», sagt Iðunn. «Ich werde nachschauen, ob auf der Versicherungsliste aufgeführt ist, von wem das Gemälde stammt.»
    Vom Wohnzimmer aus machen wir einen Rundgang durch das Haus, es wirkt aufgeräumt, und es sind keine Anzeichen eines Kampfes zu sehen. Die Matratze im Schlafzimmer ist abgezogen, und ich schaue Iðunn fragend an, die mir aufgrund meines Dilettantismus beinahe schroff erklärt, dass die Bettwäsche ins Labor geschickt worden sei, das Bett jedoch sauber gewesen sei und die einzigen Spuren in der Wäsche vom Opfer herrühren würden. Auch das Bad, das an das Schlafzimmer grenzt, ist sauber, aber nach der letzten Reinigung offensichtlich noch benutzt worden, da auf dem Waschbecken ein Rasierer mit vertrockneten Schaumflecken liegt und über dem Badewannenrand ein Handtuch hängt. Unten befinden sich ein Fahrradraum und eine ausgebaute Garage sowie ein Fernsehzimmer und ein großzügiges Büro. Am Fenster erblicke ich einen hohen Zeichentisch, der dazu gedacht ist, im Stehen zu arbeiten, und an der Wand befindet sich ein gewöhnlicher Schreibtisch mit ein paar Unterlagen, ordentlicher gestapelt, als ich es gewohnt bin. Rechnungen, die Einladung zu einer Gemäldeausstellung, Schmierzettel, die mit der Arbeit zu tun haben. Besonders ein Gegenstand auf dem Schreibtisch weckt mein Interesse: ein gefalteter Veranstaltungskalender der AA . Der Kalender ähnelt meinem eigenen, blaugrau und auf Kreditkartengröße zusammengefaltet, damit er gut in die Brieftasche passt, doch in diesem Exemplar sind mindestens zwei Versammlungen am Tag mit verschiedenfarbigen Kugelschreibern, Filzstiften und Bleistiften unterstrichen. Ich fuchtle mit dem Kalender vor Iðunns Gesicht herum.
    «Willst du, dass ich zu all diesen Meetings gehe?»
    «Das wäre von Vorteil», meint sie, «aber wahrscheinlich müssen wir herausfinden, welche Meetings er regelmäßig besucht hat, dann haben wir einen Ansatzpunkt.»
    «Okay, und wie stellen wir das an?» Mein Kopf ist plötzlich so schwer, und ich fühle mich wie betäubt, als ob ich neben mir stehen würde. Ich nehme das Dasein wie ein dumpfes Echo der Realität wahr. Entzugserscheinungen, haben die Ärzte in Vogur gesagt. Sie können auch später in Form von Müdigkeit, Anspannung, Vergesslichkeit und Verwirrtheit auftreten.
    «Willst du nicht morgen Mittag mitkommen, wenn ich mich mit dem Liebhaber treffe?», fragt Iðunn. Ich bin einverstanden und bitte sie, mich nach Hause zu fahren, ich will mich hinlegen.
     
    Es ist typisch für Egill, dass er mich aus dem Tiefschlaf holt, indem er die Türklingel lange gedrückt hält. Ich öffne ihm mit Hilfe der Gegensprechanlage, und kaum habe ich den Knopf losgelassen, da klopft er schon an der Tür. Er scheint die Treppe mit einem Satz genommen zu haben.
    «Verdammt noch mal, wie gut du aussiehst, Mann!», sagt er und schlägt mir auf den Rücken. Das ist seine Vorstellung von Zuneigung und Wärme.
    «Ebenfalls, Bruderherz», sage ich und meine es ehrlich, er strotzt buchstäblich vor Energie. Die kindliche Lebenskraft ist zurückgekehrt. Er hat ein paar Kilo zugelegt und wirkt nicht mehr so drahtig. Bis auf einen Ohrring und ein Piercing an der Augenbraue hat er das Arsenal an Ringen und Metallstiften, die er im Gesicht trug,
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