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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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Alles drehte sich darum, wie wir das Geld für die Miete, Rechnungen, Essen und das Nachtleben zusammenbekamen. In meinem letzten Jahr auf dem Gymnasium hatte ich nebenher Liebesromane für einen kleinen Buchverlag übersetzt, der die Groschenromane an Kiosken und in Supermärkten vertrieb. Nachdem ich die Uni geschmissen hatte, übersetzte ich im Monat zwei Romane, und nach einem Jahr verabschiedete ich mich von meinem Traum, Schriftsteller zu werden, und übersetzte stattdessen monatlich drei Romane. Wir kauften uns eine Dreizimmerwohnung in einem alten Haus in der Innenstadt. Nun waren wir nicht mehr so häufig auf Studentenfeten, sondern führten ein ruhigeres Leben, und wahrscheinlich trank ich zu dieser Zeit am wenigsten und war bei weitem am glücklichsten. Bis Baldur geboren wurde. Iðunn war im letzten Jahr ihres Jurastudiums schwanger geworden, und im April kam unser kleiner Junge zur Welt. Eine Woche später starb er an einem Herzfehler. Sein Herz war einfach zu groß für seinen kleinen Körper, und man konnte nichts für ihn tun. Es ist unmöglich zu beschreiben, wie es sich anfühlt, sein neugeborenes Kind im Arm zu halten und zu spüren, wie das Leben aus ihm entweicht. Es ist, als ob sich die eigene Zukunft in Luft auflöst, als ob die Liebe zum Leben in der Brust erlischt. In den ersten Monaten waren wir ganz benommen vor Trauer und bewegten uns wie ferngesteuert. Iðunn wollte nicht mehr an die Uni zurück, um ihr Studium abzuschließen, und nahm einen Bürojob bei der Bezirksverwaltung an. Ich übersetzte weiterhin Liebesromane, ohne länger irgendwelche Gemeinsamkeiten zwischen mir und den Romanfiguren zu erkennen, die alle zum Schluss ihr Glück fanden. Nach einigen Monaten wich die Taubheit und das Gefühl der Unwirklichkeit allmählich einem schneidenden Schmerz, der jedes Mal, wenn die Gedanken zu unserem kleinen Jungen abdrifteten, wie eine ätzende Flüssigkeit durch den Körper floss. Dazwischen aber gab es immer wieder Glücksmomente, wenn uns etwas leichter ums Herz wurde und wir uns in die Augen schauen konnten, ein wenig lachten oder uns liebten. Ich kann fast auf den Tag genau sagen, wann ich aufgehört habe zu trinken, um mich zu amüsieren, und wann ich angefangen habe zu trinken, um den Schmerz zu betäuben.
     
    Ein Rettungswagen fährt auf dem Parkplatz vor, und ein Mann wird auf einer Tragbahre in die Klinik getragen. Obwohl eine Decke über ihm ausgebreitet und er mit zwei Gurten festgezurrt ist, kann ich deutlich erkennen, wie der schmächtige Körper darunter zittert und zuckt. So schlimm war es bei mir nicht. Meine Trinkgewohnheiten unterschieden sich nicht wesentlich von denen anderer, außer dass ich ein bisschen mehr und ein bisschen häufiger trank. Nachdem unser kleiner Junge zur Welt gekommen und gestorben war, hatte ich keine Lust mehr, auszugehen und unter Leuten zu sein, sondern saß lieber zu Hause vor dem Fernseher, nippte an meinem Bier und besoff mich mit Wodka, bis ich auf dem Sofa wegdämmerte. So verliefen die Wochenenden, und manchmal war es auch unter der Woche so. Am Anfang weckte mich Iðunn noch und schleppte mich ins Bett, doch zu guter Letzt gab sie auf, und ich erwachte mitten in der Nacht auf dem Sofa, mit einer Bierdosensammlung vor mir auf dem Tisch und einer Heidenangst in der Brust, dass sie vielleicht nicht im Bett lag, sondern aufgegeben und mich verlassen hatte. Ich verspürte eine tiefe Dankbarkeit, wenn ich sie auf ihrer Seite des Bettes liegen sah, und ich schwor mir – und manchmal sogar ihr –, mit der Sauferei aufzuhören.
    Während ich den Rettungssanitätern zuschaue, wie sie mit der Trage durch das Eingangsportal von Vogur eilen, verspüre ich eine unendlich große Erleichterung darüber, dass ich, im Gegensatz zu dem Mann auf der Trage, die zehn Tage bereits hinter mir habe. Vor zehn Tagen hätte ich zwischen diesem Mann und mir keine Gemeinsamkeiten entdeckt, aber jetzt empfinde ich eine Art Solidarität und begreife, dass uns lediglich das Ausmaß voneinander unterscheidet, nicht die Gesinnung. Ich könnte genauso enden, es ist nur eine Frage der Zeit und der Gelegenheit. Die Ohnmacht dem Alkohol gegenüber ist dieselbe.
     
    Iðunn hält dicht am Gehsteig, und mir fällt auf, dass sie den Wagen wahrscheinlich nicht mehr gewaschen hat, seit sie mich verlassen hat. Es war immer meine Aufgabe, das Auto zu waschen. Wir begrüßen uns ziemlich ungeschickt mit einem Kuss auf die Wange, und ihr Lächeln ist irgendwie so vertraut und
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