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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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mich dem Versammlungsort und genieße es, die frostkalte Luft in den Lungen zu spüren. Ich betrete atemlos und keuchend das alte Holzhaus, wo das Meeting gerade vorbereitet wird. Allem Anschein nach ist die Versammlung ziemlich gut besucht. Ich wähle einen Platz in den hinteren Reihen und schätze die Anzahl der Leute, die sich begrüßen, plaudern, sich Kaffee einschenken und sich hinsetzen, auf ungefähr dreißig. Um Punkt acht verstummt das Stimmengewirr im Saal, als ein großgewachsener Mann mit der Begrüßung beginnt. Im Entzug bin ich zu jedem Meeting gegangen, das angeboten wurde und wo immer dasselbe passiert: Wie durch einen wundersamen, stillen Zauber beruhigen sich meine rastlosen Gedanken, bis auch die überreizten Nerven Entspannung und Ruhe finden – um diesen Zustand zu erreichen, war ich vorher immer auf Alkohol angewiesen. Nach den Begrüßungsworten schildert der Hüne in kurzen Sätzen sein Leben, wie der Alkoholismus ihn um das Beste in seinem Leben gebracht und der Heilungsprozess ihm allmählich dazu verholfen hat, nach und nach wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen und einen Teil des Verlustes wettzumachen. Mit einigen Aspekten seiner Lebenserfahrung spricht er mir direkt aus der Seele, und ich verstehe nun viel besser, dass ich mir mein Selbstmitleid über mein unglückliches Leben hätte ersparen können, dass ich selbst in mein Unglück gerannt bin. Der Riese gibt mir Hoffnung, dass ich eines Tages mit erhobenem Kopf dastehen und von mir behaupten kann, glücklich zu sein. Im Anschluss an seine Rede ergreifen andere das Wort und sprechen über unterschiedliche Themen. Jeder strahlt diese innige Dankbarkeit aus, Teil dieser Versammlungen zu sein, die es ihnen ermöglicht, sich täglich mit den Schwierigkeiten des Lebens auseinanderzusetzen, ohne den Mut zu verlieren und im Suff Erlösung zu suchen. Zum Schluss stehen alle auf, nehmen sich an den Händen und sprechen ein kurzes Gebet, das mich mit einem Gefühl erfüllt, als ob die gebündelte Kraft aller Anwesenden durch meine Arme in meinen Körper strömt und mich nicht nur berührt und aufwühlt, sondern auch ruhig werden lässt und zufrieden macht.
    «Bist du zum ersten Mal bei einem Meeting?», fragt mich eine blonde junge Frau, die sich zu mir durchdrängt, als ich nach Beendigung der Versammlung ratlos in der Menge stehe. Obwohl ich hier niemanden kenne, möchte ich diese Atmosphäre der Geborgenheit auf keinen Fall verlassen.
    «Ja», antworte ich, «das war ein gutes Meeting.»
    «Einige von uns gehen anschließend noch in ein Café, ein bisschen quatschen», sagt sie aufmunternd und zeigt auf eine nicht genauer definierte Gruppe von Leuten hinter ihr. «Kommst du mit?» Ich möchte am liebsten ja sagen, doch mir fallen die Ratschläge aus dem Entzug wieder ein, Situationen zu umgehen, in denen man vorher getrunken hat, und mich beschleichen Zweifel.
    «Ich bin gerade erst heute aus dem Entzug gekommen, und ich weiß nicht, ob das so schlau ist.»
    «Dann bist du in bester Gesellschaft!», erwidert sie lachend, und in ihrem Lachen steckt eine erfrischende Leichtigkeit. Doch dann fügt sie etwas ernsthafter hinzu, dass sie in ein Lokal gehen, wo kein Alkohol ausgeschenkt wird.
    Weil ich immer Schwierigkeiten gehabt habe, ohne Alkohol einzuschlafen, und es einem im Entzug nahegelegt wird, abends Koffein zu meiden, bestelle ich im Café einen Kräutertee. Die Gruppe besteht aus acht Leuten, die sich ganz offensichtlich gut kennen, ich fühle mich wohl und habe überhaupt nicht das Gefühl, ein Außenseiter zu sein. Sie stellen sich alle vor, doch der einzige Name, der mir im Gedächtnis bleibt, ist der der blonden Frau, die mich ins Café eingeladen hat. Sie heißt Fríða, und ich suche wie von selbst immer wieder den Blickkontakt mit ihr. Sie hat ein breites Gesicht, hohe Wangenknochen, und ihre blauen Augen sind leicht schräg.
    «Bist du Egills Bruder?», fragt sie plötzlich, und als ich es bejahe, lacht sie herzlich und meint, dass sie den Gesichtsausdruck erkannt habe. Die Frage erinnert mich daran, dass ich Egill versprochen habe, mich bei ihm zu melden, sobald ich aus dem Entzug komme, und so trinke ich meine Tasse leer und danke der Gruppe für den netten Abend.
     
    Es macht mir Spaß, kreuz und quer durch die engsten Straßen und Gassen der Altstadt zu streifen, und ich bewege mich in einem verworrenen Zickzackkurs fort, bis ich endlich zu Hause ankomme. Es herrscht eine frostige Stille, und auf dem Asphalt
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