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Die drei Lichter der kleinen Veronika

Die drei Lichter der kleinen Veronika

Titel: Die drei Lichter der kleinen Veronika
Autoren: Manfred Kyber
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1. Im Garten der Geister
    Es war ein Garten der Geister, in dem die kleine Veronika im Sande saß und spielte. Aber ihr müßt nicht denken, daß dieser Garten ein ganz besonderer Garten war. Das war er gar nicht. Es standen viele grüne Bäume darin, wie sie auch sonst überall zu sehen sind, Kartoffeln, Kohlpflanzen und Radieschen saßen ordentlich nebeneinander in langen Reihen, und Rosen und Lilien leuchteten rot und weiß in der Frühsommersonne. Es war ein großer Garten, und er war ganz umfriedet von einer hohen, halbverfallenen und mit Moos bewachsenen Mauer, eine stille Welt für sich, wie es alle alten Gärten sind. An dem einen Ende lag, unter blühenden Sträuchern verborgen, ein kleines Gartenhaus im Barockstil, in dem Onkel Johannes wohnte, und am anderen Ende stand ein großes graues Gebäude aus sehr alter Zeit, und in ihm war die kleine Veronika zu Hause. Es war dies das Haus der Schatten. Aber davon kann ich erst später erzählen, denn heute lebte die kleine Veronika noch gar nicht recht bewußt darin. Heute lebte die kleine Veronika noch ganz und gar im Garten der Geister, und wenn es auch nur ein ganz gewöhnlicher Garten war, wie ich euch sagte – die kleine Veronika sah ihn mit den inneren Augen, die sie noch aus dem Himmel mitgebracht hatte, und für solche Augen ist jeder Garten ein Garten der Geister, und die ganze Welt ist ein Meer von Leben und Licht. Wir alle haben die Erde einmal so gesehen, als wir kleine Kinder waren, aber dann kam die große Dämmerung, die himmlischen Augen schliefen ein, und nun haben wir das alles vergessen. Aber ich will euch an das erinnern, was ihr vergessen habt, wie ich mich selbst erinnert habe aus Dunkel und Dämmerung.
    Schau ins Leben und ins Licht, kleine Veronika, ehe die himmlischen Augen eingeschlafen sind. Dann hast du etwas, woran du dich erinnern kannst, wenn die Dämmerung gekommen ist und es dunkel um dich wird. Denn es wird dunkel um jeden, damit er schmerzvoll bewußt wird und sich selber findet in der Dunkelheit – sich selbst und Gott. Aber das ist ein langer Weg, kleine Veronika. Es ist schwer, daß wir alle ihn gehen müssen.
    Die Kinderschaufel und der kleine Blecheimer, auf dem ein froher roter Hase gemalt war, lagen untätig vor einem umgegrabenen Beet, in das die kleine Veronika sehr sonderbare Dinge pflanzen wollte. Aber nun saß sie still und staunte mit weiten Augen in den Garten. Noch waren ja ihre Augen die himmlischen Augen, und der ganz gewöhnliche Garten war ein Garten der Geister. Was gab es hier alles zu schauen und zu hören!
    »Möchtest du dir nicht mein Landhaus betrachten, Veronika?« fragte ein großer Käfer, der vor ihr saß, und machte eine empfehlende Bewegung mit dem Fühler.
    »Siehe, wie weiß unsere Blüten sind«, sagten die Liliengeister, »so rein und weiß ist das himmlische Hemd, das du einmal trugst.«
    »Hast du bemerkt, wie geschickt sich schon meine Kinder zusammenrollen können?« fragte die Igelmutter, die mit ihrer Familie in einem behaglichen Loch der moosbewachsenen Mauer saß.
    »Schau, wie rot unsere Kelche sind«, sagten die Rosenseelen, »so rein und so rot ist der Kelch des Grales, nach dem du einmal die Arme ausgestreckt hast. Du denkst jetzt nicht mehr daran, aber du wirst wieder daran denken, wenn die Dämmerung über dich gekommen ist, kleine Veronika.«
    »Findest du nicht, daß meine Kleinen wunderbar fliegen können?« fragte die Amsel und streckte den gelben Schnabel mit einer gewissen Herausforderung vor, »wie geschickt sie wieder auf dem Nestrand landen! Dabei haben sie noch nicht einmal sehr lange geübt, nein, das kann man eigentlich nicht sagen. Hast du schon jemals eine solche Geschicklichkeit gesehen?«
    Die Kohlblätter rauschten und die Falter gaukelten darüber hin.
    »Du bist wie wir, kleine Veronika, du bist eine Raupe und wirst ein Falter werden. Du wirst dich verpuppen, wenn die Dämmerung kommt.«
    Die Radieschen stießen sich mit den Blättern an und lachten. Sie hatten sich irgendeine Geschichte erzählt, die komisch war. Aber Veronika hatte die Geschichte nicht gehört, und das war auch gut gewesen, denn es war gewiß keine Geschichte für kleine Kinder. Radieschen sind überhaupt sehr vorlaut und etwas bissig.
    Man konnte ja auch gar nicht alles hören und sehen im Garten der Geister, es waren viel zu viele Stimmen und Bilder, und alles war in Licht und Leben getaucht, das sich ständig bewegte. Der kleinen Veronika schien es, als drehe sich alles im Kreise um sie
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