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Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
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erstarre. Die Schlagzeile nimmt eine halbe Seite ein: «Polizei sucht Mörder!», und darunter steht in kleineren Buchstaben: «Der letzte Woche in Grafarvogur aufgefundene Tote ist ermordet worden.» Ich packe die Zeitung zusammen mit dem Morgunblaðið in den Einkaufskorb, ich will wissen, was in der Welt vor sich geht.
     
    Als Erstes staubsauge ich die gesamte Wohnung und schrubbe den Boden mit einer ordentlichen Menge parfümiertem Putzmittel. Dann trage ich alle Kisten in das Zimmer nebenan und staple sie dort an der Wand, sodass das Wohnzimmer auf einmal geräumig und ganz ansehnlich wirkt. Ich breite das Papiertischtuch über den Sofatisch, stelle ein paar Duftkerzen auf einen Teller und wühle in einigen Kisten herum auf der Suche nach irgendwelchem Kram, den ich zur Dekoration aufstellen könnte. Beim Umzug damals habe ich den Überblick verloren, deswegen liegt jetzt in den Kisten alles durcheinander: Bücher, Bilder, Geschirr, alte Briefe, CDs und Kleinkram. In einer Kiste liegt ein Stapel mit Fotos von unserem kleinen Jungen. Zweihundert Fotos in einer Woche, und doch nicht genug. Ich spüre, wie sich mein Herz zusammenzieht und der alte Schmerz wie siedend heißer Tee aus einer übervollen Tasse schwappt und den ganzen Körper überflutet. Als Reaktion auf diesen Schmerz verspüre ich plötzlich ein starkes Verlangen nach Alkohol: Ein eiskaltes Bier würde diesen brennenden Stich in der Brust im Nu lindern. Ich schließe die Fototasche, weil ich merke, dass ich etwas zu dünnhäutig bin, um mir ausgerechnet jetzt – ohne Bier und in diesem haltlosen Zustand – Bilder von ihm anzuschauen. Ich erinnere mich an die Worte, die ich auf einem Meeting im Rahmen des Entzugs gehört habe, atme tief durch und warte ruhig ab, ohne irgendeine Entscheidung zu treffen, und rede mir selber ein: «Auch das geht vorbei.» Und tatsächlich ist die Lust auf Bier nach wenigen Augenblicken beinahe wie weggeblasen, und ich wühle weiter nach Nippes und Bildern, die ich auf das Fensterbrett und die Regale stelle. Bei der Aussicht auf ein besseres und angenehmeres Leben fühle ich mich ganz beschwingt.
     
    Während ich den Salat mische, Balsamico-Dressing und geröstete Pekannüsse darübergebe, höre ich mir die Nachrichten im Radio an. Es wird berichtet, dass der Mann aus Grafarvogur vor zehn Tagen in seiner Wohnung ermordet aufgefunden wurde, ungefähr zur selben Zeit, als ich den Entzug begann. Die Obduktion hat ergeben, dass er vierundzwanzig Stunden vorher gestorben ist, was mit den Informationen aus den Zeitungen übereinstimmt. Als ich mich frage, ob das die Mordermittlung ist, von der Iðunn gesprochen hat, erklingt schon ihre Stimme im Radio, und Iðunn Baldursdóttir, Kriminalbeamtin und Leiterin der Ermittlungen, bestätigt, dass die Untersuchungen in vollem Gange seien und gut vorankämen. Nach zwei Jahren bei der Bezirksverwaltung hat sie sich an der Polizeischule beworben, wurde aufgenommen und ist in wenigen Jahren zur Kriminalbeamtin aufgestiegen. Sie war insbesondere für Einbruch- und Diebstahlsdelikte zuständig, was zur Folge hatte, dass sie Fingerabdrücke in Kindergärten und Apotheken, in denen eingebrochen worden war, abnehmen musste und auf der Suche nach dem Dieb die geläufigen Schlupflöcher polizeibekannter Gauner durchforstete. Mich befällt ein Schaudern bei dem Gedanken, dass sie nun Leichen untersucht und Mördern nachstellt. Welche Hilfe kann sie nur in so einer Mordermittlung von mir erwarten? Fachkenntnisse, hat sie gesagt. Ich verfüge über keine speziellen Kenntnisse außer in Bezug auf englische Liebesromane der leichteren Art. Sie wird ja wohl kaum in diesem Bereich Nachforschungen anstellen. Je mehr ich darüber nachdenke, umso absurder erscheint mir der Gedanke, dass ich zu diesen Ermittlungen irgendetwas von Nutzen beitragen könnte. Bei diesen Untersuchungen geht es vermutlich um Fingerabdrücke, DNA , Mikropartikel, Gewebeproben oder wie auch immer diese Dinge heißen, über die sie sich auf Seminaren im Ausland ständig weiterbildet. Ich esse den Salat und das halbe Hähnchen und stehe hastig auf, um zu einem Meeting zu gehen, wo ich hoffentlich Ruhe vor dem Verlangen nach Alkohol finden kann, das immer größer wird, je mehr ich über diese Mordermittlung nachdenke.
     
    Ich blättere den Veranstaltungskalender der Anonymen Alkoholiker durch und wähle ein Meeting in der Nähe aus, mitten in der Innenstadt, das um acht Uhr beginnen soll. Mit zügigen Schritten nähere ich
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