Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwoelf Schritte

Zwoelf Schritte

Titel: Zwoelf Schritte
Autoren: Lilja Sigurdardóttir
Vom Netzwerk:
mich, dass man den Glauben in seinem Inneren pflegen soll. Nach Geir ergreifen andere Versammlungsmitglieder das Wort, junge Leute, und ich habe den Eindruck, dass es noch halbe Kinder sind, sie sind ungefähr im Alter von Egill. Es macht Spaß, ihnen zuzuhören, und ich freue mich für sie, dass sie nicht wie ich noch zehn Jahre weitertrinken müssen, bis sie damit aufhören. Sie reden nicht lange um den heißen Brei herum, sondern erzählen von irgendeiner Begebenheit oder beschreiben ihr Befinden, als sie noch getrunken oder Drogen konsumiert haben, erläutern, was sie dazu gebracht hat aufzuhören, und zu guter Letzt, welche Methoden sie anwenden, um nüchtern zu bleiben. Reden hilft, und es ist simpel zu erkennen, was wirklich wichtig ist, da mir Geirs Worte noch immer allgegenwärtig sind. Unzählige Fragen zum Glauben und Gedanken über seine Wichtigkeit, wie man ihn hegen und pflegen sollte, schießen mir auf dem Heimweg durch den Kopf. Ich spüre, dass ich Geir gerne wieder zuhören und am liebsten persönlich mit ihm sprechen würde.
     
    Egill bietet an, mir beim Kochen zu helfen, doch es scheint, dass er mit seinen Gedanken woanders und immer einen Schritt voraus ist, sodass ein großer Teil des Gemüses, das ich ihm zum Schnippeln gegeben habe, auf dem Boden landet. Ich schreite ein und nehme ihm das Gemüse ab. Stattdessen gebe ich ihm die Kartoffeln für die Suppe zum Schälen. Dann schneide ich Zwiebeln, Peperoni und frischen Ingwer klein, der das eigentliche Geheimnis der Hühnersuppe ist. Als ein köstlicher Duft aus dem Topf aufsteigt, überkommt mich das Verlangen nach Wein, und ich bin auf einmal sehr dankbar, dass Egill zu Besuch ist.
    «Für gewöhnlich habe ich lieblichen Weißwein zu dieser Suppe getrunken», sage ich zu ihm, und er schaut mich an und versteht, was ich damit sagen will.
    «Ach was, Apfelsaft passt viel besser dazu», sagt er und fügt mit einem Grinsen hinzu: «Und du wirst nicht so verdammt besoffen davon.» Wir essen die Suppe am Küchentisch vor dem Fenster, und ich zünde die Kerzen auf dem Tisch an, die ein angenehmes Licht auf uns und das Schneetreiben vor dem Fenster werfen.
     
    Am Abend fällt es mir schwer einzuschlafen. Die Versuchung, nach dem Essen zum Eis einen Kaffee zu trinken, ist stärker gewesen als die Vernunft, und jetzt, einige Stunden später, muss ich dafür büßen. Egills Besuch scheint in mir einen Erinnerungsschub an unsere Kindheit ausgelöst zu haben, und Bilder von ihm als kleiner Junge, der wegen der alkoholgeschwängerten Streitereien unserer Eltern weint, tauchen vor mir auf. Ich habe ihn für gewöhnlich hochgehoben und in den Keller getragen, wo das Geschrei am wenigsten zu hören war. Dort habe ich aus alten Decken einen Zufluchtsort gebaut. Sein Teddy lag dort und ein Notvorrat an Schnullern, die ich gegen Taschenlampen und Bücher vertauschte, als er älter wurde. Oftmals gelang es mir, ihn in den Schlaf zu wiegen, sodass ich nur noch dem Geschrei von Papa und dem Gekeife von Mama, aber nicht mehr dem Weinen meines kleinen Bruders zuhören musste. Im Hinblick auf Geirs Worte überlege ich, ob die Umstände einer solchen Kindheit der eigentliche Grund dafür sind, warum die Leute die Fähigkeit zu glauben verlieren. Ausgehend von diesen Überlegungen, wandern meine Gedanken zu der Leiche von heute Morgen, und plötzlich lässt es mich nicht länger kalt, dass der Tote einmal ein lebendiger Mensch gewesen ist, und ich weine wie ein Schlosshund, dass der gekreuzigte Mann solche Qualen erleiden musste.
     
    Am nächsten Tag laufe ich mittags eilig den Laugavegur hinunter, um Iðunn und den Liebhaber des Gekreuzigten zu treffen. Ich finde es seltsam, dass ich gestern Abend so traurig gewesen bin, denn heute finde ich das Leben lebenswert. Die Ärzte in Vogur haben gesagt, dass ich wahrscheinlich die ersten Tage nach dem Entzug empfindlich reagieren würde, was mir als Rechtfertigung für mein Geheule gestern Abend dient. Vielleicht stimmt es, dass Weinen guttut. In den letzten Jahren habe ich selten Tränen vergossen. Diejenigen, die ein neugeborenes Kind verloren haben, finden selten einen Grund, über etwas anderes zu weinen.
    Iðunn sitzt alleine am Fenster und liest Zeitung. Als ich näher komme, schaut sie auf und lächelt mich an. Iðunn lächelt nicht wie andere Menschen, sie lächelt mit allem, ihre Augen leuchten, und das Lächeln breitet sich über das ganze Gesicht, ihren gesamten Körper aus. Mein Herz macht einen Sprung, und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher