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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria
Autoren: Anne Perry
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KAPITEL 1
    P itt öffnete die Augen, aber das hämmernde Geräusch hörte nicht auf. Das erste Grau des frühen Septembermorgens drang durch die Vorhänge. Es war noch nicht einmal sechs Uhr, und doch stand da jemand an der Haustür.
    Charlotte, die neben ihm schlief, bewegte sich unruhig. Das Klopfen konnte sie jeden Augenblick wecken.
    Rasch glitt er aus dem Bett und eilte aus dem Schlafzimmer. Barfuß lief er die Treppe hinunter, nahm hastig seinen Mantel vom Haken in der Diele, fuhr mit einem Arm hinein und entriegelte die Haustür.
    »Guten Morgen, Sir«, sagte Wachtmeister Jesmond entschuldigend. Seine Hand war erhoben, offensichtlich hatte er gerade noch einmal anklopfen wollen. Er war Mitte zwanzig, und er hielt es für eine bedeutsame Beförderung, dass man ihn von einer der Londoner Polizeiwachen zum Sicherheitsdienst abgeordnet hatte. »Tut mir Leid, Sir«, fuhr er fort. »Aber Mr Narraway möchte umgehend mit Ihnen sprechen.«
    Pitt sah die vor dem Haus wartende Droschke. Der Atem des Pferdes, das ein wenig mit den Hufen scharrte, hing wie Dampf in der Luft. »Wenn es sein muss«, sagte Pitt verärgert. Der Fall, an dem er gerade arbeitete, war nicht weiter aufregend, stand aber kurz vor der Lösung. Nur noch die eine oder andere Kleinigkeit fehlte – da konnte er keine Störung brauchen.
    »Kommen Sie rein.« Erwies hinter sich in Richtung Küchentür. »Wenn Sie wissen, wie man das macht, können Sie das Feuer im Herd in Gang bringen und den Wasserkessel aufsetzen.«
    »Entschuldigung, Sir, aber dafür ist keine Zeit«, wandte Jesmond in entschiedenem Ton ein. »Ich kann Ihnen nicht sagen, worum es geht, aber Mr Narraway hat angeordnet, dass Sie sofort kommen sollen.« Er stand wie angewurzelt auf dem Steinpflaster vor dem Haus, als könne er Pitt dadurch veranlassen, schneller mitzukommen.
    Seufzend trat Pitt wieder ins Haus und schloss die Tür, um die feuchte Luft nicht hineinzulassen. Auf dem Weg nach oben zog er den Mantel aus. Als er am Waschtisch Wasser aus der Kanne in die Schüssel gießen wollte, sah er, dass sich Charlotte im Bett aufgesetzt hatte und sich die Haare aus der Stirn strich.
    »Was gibt es?«, fragte sie. Als ob sie sich das nicht denken könnte! Immerhin war sie seit über zehn Jahren mit ihm verheiratet und wusste, worum es bei seiner Arbeit ging. Nach gut neun Jahren bei der Polizei war er jetzt seit einem halben Jahr im Sicherheitsdienst tätig. Sie traf Anstalten aufzustehen.
    »Bleib ruhig liegen«, sagte er rasch. »Es hat keinen Sinn.«
    Mit den Worten: »Lass mich dir wenigstens eine Tasse Tee machen«, setzte sie die Füße auf den Bettvorleger. »Außerdem brauchst du heißes Wasser zum Rasieren. Es dauert höchstens zwanzig Minuten.«
    Er stellte die Wasserkanne zurück auf den Waschtisch, ging zu ihr und streichelte sie liebevoll. »Leider reicht die Zeit dafür nicht, sonst hätte ich das Wachtmeister Jesmond machen lassen. Leg dich also ruhig wieder schlafen ... Zumindest hast du es im Bett schön warm.« Er legte die Arme um sie, drückte sie fest an sich, gab ihr einen Kuss und dann noch einen. Danach kehrte er zum Waschtisch zurück, wusch sich kalt und zog sich an. Kurz darauf war er bereit, sich auf den Weg zu Victor Narraway zu machen, dem Mann an der Spitze des englischen Sicherheitsdienstes. Pitt kannte in Königin Viktorias ausgedehntem Reich niemanden, der auf dem Gebiet geheimdienstlicher Tätigkeit einen höheren Rang bekleidete als er.
    Auf den Straßen herrschte noch kaum Leben. Für Köchinnen und Stubenmädchen war es zu früh, doch man sah Hausknechte und Diener Kohlen ins Haus tragen. Hausmägde nahmen die Lieferungen der Fisch- und Geflügelhändler sowie der Obst- und Gemüseverkäufer entgegen. Im allmählich heller werdenden Licht des frühen Morgens fiel der Blick durch offen stehende Lieferanteneingänge in hell erleuchtete Spülküchen.
    Bis Pitt das kurze Stück von der Keppel Street im nicht besonders wohlhabenden, aber durchaus achtbaren Teil des Stadtviertels Bloomsbury, wo er lebte, zu dem unauffälligen Haus zurückgelegt hatte, in dem Narraway zur Zeit sein Standquartier hatte, war es vollständig hell geworden. Er ging nach oben, während Jesmond, der seine Schuldigkeit getan hatte, unten wartete.
    Narraway saß in dem riesigen Sessel, den er von einem Haus zum anderen mitzunehmen schien, wenn er von Zeit zu Zeit sein Standquartier wechselte. Er war schlank, drahtig und nahezu eine Handbreit kleiner als Pitt. Graue Fäden
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