Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten
Autoren: Michael Wallner
Vom Netzwerk:
er den Krieg erträglich gemacht, ihr zuliebe das unschöne Haus in ein Heim verwandelt. Selbst seine Erniedrigung und das berufliche Ende waren zu ertragen gewesen, weil er es mit ihr teilen durfte. Sie zu beschützen, jede ihrer Eigenarten zu lieben, von ihrem Humor und ihrer Strenge ummantelt zu sein, gab Erik allen Sinn. Zukünftig sah Inga sie beide in dem tristen Haus am Stadtrand, ihren Vater, den uneinsichtigen Frührentner, ohne Ziel, seine unabsehbare Einsamkeit. Heute war Marianne ja noch lebendig, die hundert Menschen ließen sie wiedererstehen, sie wurde gefeiert, geehrt, als weilte sie unter ihnen. Heute wurde Eriks Schmerz prachtvoll erhoben, das Defilee zu Mariannes Ehren gab auch ihm Glanz, täuschte über alles Kommende hinweg. Inga aber sah die langen Sommerabende vorher, wenn niemand unter dem Sonnenschirm auf dem Küchenbalkon saß und Eriks Kochkunst bestaunte, wenn seine Frau nicht mit fröhlichem Lachen erwachte und das Kissen aufklopfte, weil er ihr das Frühstück ans Bett brachte. Inga sah die grauen Sprenkel auf dem Sessel, wo sonst ihr Aschenbecher klemmte, Mariannes Schrift auf dem Canastablock, den leeren Liegestuhl im Garten. Durch ihre liebenswürdige Macht war Ingas Vater glücklich gewesen, besonnt, der ängstliche Mensch mit den unruhigen Augen hatte gelacht und gelebt, weil es Marianne gab. Von der Seite sah Inga ihn an und begriff, daß die Zeit nicht jedermanns Wunde heilte.
    Hennings Wagen parkte so dicht an der Aufbahrungshalle, daß verspätete Gäste umständlich zwischen Auto und Hausmauer durchschlüpfen mußten, um auf den Hof zu gelangen. Inga wich
Hennings Blick aus – was gab es noch zu bereden? So viel hatte sich zugetragen, daß sie bereits zu vergessen begann, wieso er und sie jemals auf den Jägersitz gestiegen waren.
    Inga bemerkte die Witwe des Onkels, Schwarz war ihre Alltagskleidung geworden, sie blieb an Hennings Stoßstange hängen, prüfte, ob der Strumpf unbeschädigt geblieben war. Sie hatte schlanke Beine, war noch jung, sie lebte in selbstgewählter Einsamkeit. Hinter ihr, Freude durchfuhr Inga, kam der Pferdedoktor, brachte Blumen, einen fröhlichen Strauß, der besser zu Marianne paßte als die eisigen Totenblumen. Im Anzug sah man ihm den Geschäftsmann an, den er während der Jahre zu verschleiern gewußt hatte. Leerten sich nun seine Lager, stieg oder fiel der Profit mit dem neuen Geld – August würde Angebot und Nachfrage stets zu seinem Nutzen lenken.
    Der Regen begann sanft, wie eine höfliche Aufforderung, Mariannes Feier zu eröffnen. Jene, die auf dem Vorplatz standen, ballten sich zur Gruppe und drängten in die Halle, manche spannten für die letzten Meter den Schirm auf. August schüttelte der Familie die Hand, sie erwarteten die Beileidsbekundung, er aber sagte, die Madonna könne jederzeit abgeholt werden. »Das war Mariannes Statue«, lächelte er. »Die hätte ich nie weggegeben.« Er schwenkte das Auge seitlich und schenkte Erik einen ermutigenden Blick. Staunend bedachte Inga, daß alles verjährte, sogar die Packen von Geld, mit denen Frau Seidler bezahlt worden war. Der Regen fiel dichter, die Schultern des Vaters begannen zu glänzen; Inga schob ihn ins Trockene, wollte sich unterhaken und mit ihm durch den Mittelgang gehen, zu Mariannes Sarg.
    Der Militärwagen hielt am Straßenrand, die Räder rutschten auf den geschotterten Vorplatz. Alle, die noch im Freien waren, drehten sich um und beobachteten den abspringenden Unteroffizier, zwei MPs auf dem Rücksitz, einer saß am Steuer. Auch Erik fuhr herum, prallte zurück, er wollte in die Tiefe des Portals entweichen; Menschen, die ihre Regenschirme schlossen, versperrten ihm den Weg. Ein Sergeant, den Inga noch nie gesehen hatte, näherte
sich in Sommeruniform, das Barett in die Achselklappe geschoben, seine Schritte knirschten im Kies.
    Â»Nicht heute!« stammelte Erik und ergriff Ingas Arm.
    Der Engländer ging langsamer mit jedem Schritt.
    Â»Heute holt mich keiner von hier weg!« schrie der Vater mit gebrochener Stimme. Inga bedeutete ihm zu schweigen, spürte, wie alle Haltung aus ihm wich, der Muskel erschlaffte; umsonst versuchte sie den Riesen zu stützen, neben ihr sank er zu Boden. Ratlos wichen die Gäste zur Seite, der Pfarrer trat näher; im Hintergrund sprangen die Militärpolizisten aus dem Jeep.
    Â»Laßt ihn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher