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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten
Autoren: Michael Wallner
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braunrote Montur als eine Art Tracht, Bänder, Schnallen und Schmuckdolch hätten mit seiner Position nichts zu tun gehabt. Die Rechtfertigung fiel so unselig aus, daß sie seine Lage verschlimmerte. Ein Führer mit Sondervollmachten im Transportwesen sei er gewesen, beschuldigte ihn der Ankläger. Als Bahnhofsvorsteher verstehe sich die Vollmacht im Transportwesen von selbst, wandte der Verteidiger ein.
    Inga stellte sich vor, wie Erik nach jener besonderen Nacht zu Buch gesessen haben mochte, wie er, übers Papier gebeugt, den schweren Füller führte, die Hand formte Buchstaben und Zahlen – fünfhundert Einheiten  –, sein schräg gelegtes h , der Aufschwung beim E , die Tinte drang ins Papier, die Löschwalze wiegte über die feuchte Schrift und verewigte Eriks Tat. Ins Register der außerplanmäßigen Züge schrieb er Modell und Seriennummer der Lok, deren Abfahrt zur Nachtstunde; er legte das Lineal unter den Eintrag, zog den Strich, hob es behutsam vom Papier, damit nichts verschmierte. Der Inhalt des Zuges blieb ungenannt.
    Inga hob den Deckel von der Maschine, prüfte, ob schwarzes Garn eingelegt war, schob den Stoff in die Öffnung, drehte das Schwungrad und bediente das Tritteisen. Hatte den weißhaarigen Richter sein Gespür im Stich gelassen, als er damals eine drastische
Strafe verhinderte? Bemerkte er Eriks zitternde Hände, die hilflosen Augen hinter den Gläsern, vermutete er einen Harmlosen auf der Anklagebank? Die verbüßte Haftstrafe wurde ihm angerechnet, noch am Abend des Prozesses war er frei.
    Die Zeit und das Mitleid, dachte Inga, während die Nadel auf und nieder zuckte, waren Eriks Verbündete. Wer würde einen Trauernden verhaften – wegen Erinnerungen auf dem Speicher? Alles strebte nach Erneuerung, dem Hintersichlassen der alten Geschichten; das Verschwinden der Uniform erschien Inga als Symbol dafür. Gebückt über der ratternden Maschine stellte sie sich vor, wie die Verantwortlichen beider Seiten einander im schlichten Anzug begegneten, die Zeit der bunten Montur war vorüber, das Auge hatte sich daran sattgesehen.
    Die Naht fiel schief aus, auf dem Rücken würde es niemand bemerken. Sie biß den Faden ab, im Unterkleid schlüpfte sie in Mutters Kostüm. Der Rock warf Falten, die Jacke spannte über der Brust, es mußte genügen. In Mariannes Kleidern ging Inga zu deren Beerdigung.

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    G lauben Sie ja nicht, die vierzig Märker kriegen Sie einfach so.« Obwohl der Regen noch im Westen hing, spannte die Apothekerin den Schirm auf. »Nur die ganz armen Schlucker kriegen ihr Kopfgeld ohne Gegenleistung«, redete sie auf Henning ein. »Ich konnte denen natürlich nicht nachweisen, daß ich nichts auf der Kante habe.«
    Die Apothekerin gehörte nicht zum Kreis der Familie, man wohnte lediglich Ecke an Ecke. Während er zuhörte, versuchte Henning in Ingas Nähe zu gelangen. Bei seiner Ankunft hatte er kondoliert, war aber von der Reihe der Nachrückenden verdrängt worden.
    Â»Für fünf Leute, meine Mutter, die Kinder und meinen Mann mußte ich den Gegenwert des Kopfgeldes aufbringen«, versuchte die Apothekerin seine Aufmerksamkeit zurückzuerobern. »Fünf mal vierzig mal zehn – macht zweitausend Reichsmark. Was hinterher noch auf dem Sparbuch war, reichte nicht mal, um die Gebühr für dessen Auflösung zu bezahlen.«
    Â»Wie geht es Ihrem Mann?« fragte Henning geistesabwesend.
    Â»In einem Monat wird er in Rußland entlassen.« Die Apothekerin verdrehte die Augen. »Wie ich noch einen durchbringen soll, weiß der Himmel.«
    Henning trat unter ihrem Schirm hervor, er trug einen leichten schwarzen Mantel und wandte sich zu Inga. Henning, der Hausfreund, der Marianne geliebt hatte, der die Familie an schönen Tagen durch die Landschaft chauffierte, Mutter den Schlag öffnete
und ihr aus dem Gasthaus etwas zu trinken an den Wagen brachte. Die Canastarunden, die langen Abende beim Holunderlikör – all das gab es nicht mehr. Marianne war das Bindeglied, dachte Inga, sie hat unsere Familie hell gemacht, durch sie wurde es wünschenswert, zu unserem Kreis zu gehören.
    Zwei Meter hoch stand der Vater neben ihr, er suchte die Hand der Tochter. Während die Menschen an ihnen vorüberzogen, formte sich Inga das erschreckende Bild seiner Zukunft. Er hatte nur für Marianne gelebt, für sie hatte
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