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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten
Autoren: Michael Wallner
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braun, verkocht und roch versalzen. Sie würden es Stew nennen, wie immer.
    Die Auflistung des schweren Gerätes war überfällig; Pionierausrüstung, Ersatzteile für Bergepanzer, Schienenmontagefahrzeuge, Spezialwerkzeug, hundert hellbraune Zettel, nummeriert und mit Kürzeln versehen, Inga sortierte sie nach Seriennummern und begann hinter dem getürmten Papier die Listen zusammenzustellen.
    Sie blieb bis lange nach Dienstschluß, der letzte Laster in die Stadt war längst abgefahren; wenn sie nicht bei irgendwem hinten aufspringen konnte, mußte sie anderthalb Stunden zu Fuß laufen. Sie zog das letzte Blatt aus der Maschine, entfernte den Durchschlag, das Original kam in die grüne Mappe, zusammen mit der grauen brachte sie die Papiere ins Büro des Officers. Ohne Licht zu machen, fand sie den richtigen Korb, legte darin alles ab, nahm ihren Mantel und sperrte beim Hinausgehen zu.
    Das Lager war samtweich und ruhig. Bei den Kiefern wurde gelacht, verhaltener als während des Tages, zwei Laternen beschienen die ersten Meter des Flugfelds, dahinter verschwand die Rollbahn im Dunkel. Inga ging an der unbeleuchteten Kommandobaracke vorbei, schlaff hing der Union Jack am Mast; im Casino spielte einer Klavier. Sie schlug sich in den Wald, um den Weg zum Schlagbaum abzukürzen. Zwischen den astlosen Föhren, den knospenden Sträuchern schimmerten die Lichter der Unterkünfte. Sie richtete
die Augen zu Boden, ihre Schuhe waren für Pfützen nicht gemacht. An der Rückseite des Lazaretts erreichte Inga wieder den Sandweg. Abends wurde es in H als erstes ruhig, wegen der Medikamente, nahm sie an.
    Sie hatte geglaubt, daß er sich kaum aufrichten konnte, doch da saß der Engländer auf der Terrasse, das Bein auf die gemauerte Brüstung gestreckt – kein Patient sonst vor der Tür, auch die Nachtschwester nicht –, wie war er ins Freie gelangt? Sein Bademantel leuchtete in der Dämmerung, er hob den Arm. Halb auf dem Weg, halb noch hinter den Hagebutten verborgen, hoffte Inga, er meinte nicht sie. Konnte sie ihn einfach übersehen? Sie machte den nächsten Schritt, da senkte er die Hand auf ihre Höhe, der gestreckte Finger zeigte auf Inga.
    Nie, seit sie bei den Engländern arbeitete, hatte sie ihn in einer Schreibstube oder beim Essen gesehen. Das erste Mal war er ihr bei der täglichen Abkürzung durch das Lazarett aufgefallen, er lag im Vormittagslicht, das Bettzeug schimmerte; aufgebahrt, war ihr durch den Kopf gegangen, leichenblaß, geschlossene Augen, die Hände auf der Brust gefaltet. An Beschuß und Detonation hatte Inga gedacht. Am nächsten Tag fand sie ihn unverändert, bewußtlos oder schlafend, und doch war er bewegt worden, sein Haar frisiert, die Bettpfanne halb voll, eine Tafel Schokolade lag angebrochen auf dem Nachttisch. Im Vorbeigehen hatte sie das Namensschild gelesen – A. Hayden, Ltn. Wofür stand das A .?
    Unverwandt zeigte der Finger auf Inga. Als sei sie in Eile, lief sie beiläufig näher, hielt auf dem Wiesenstück unter der Terrasse.
    Â»Ja, Sir?«
    Er hob den Kopf. »Die andern sind längst in der Stadt.«
    Seine Stimme klang überraschend tief. Sie bemerkte das Leblose im Gesicht dieses Mannes, den weißen Hals, keine Borsten, der Bartschatten fehlte; er erinnerte sie an Statuen in der Kirche.
    Â»Wie kommen Sie nach Hause?«
    Â»Zu Fuß.« Sie stützte die Hand auf die äußerste Bohle.
    Â»Dafür tragen Sie nicht die richtigen Schuhe.«

    Der Vorbau, auf dem er saß, war beleuchtet, die Wiese darunter lag im Dunkeln – wie konnte er ihre Sandalen sehen?
    Â»Die sind zu dünn für die Jahreszeit«, sagte er.
    Zu dünn und zu klein, dachte Inga. Alles an ihrer Mutter war zierlich. Bei Kriegsbeginn hatte sie die roten Sandalen in den Schrank gestellt. Die sind für den Krieg zu lustig, sagte die Mutter und trug bis zum Ende schwarze Schuhe. Jetzt bin ich zu alt dafür, sagte sie, als der letzte Sommer vergangen war, und hatte Inga die Sandalen geschenkt.
    Â»Sie heißen Inga, nicht wahr?«
    Vom ersten Tag an hatten die Briten Mühe mit ihrem Familiennamen gehabt; manche versuchten es zungenbrechend, andere nahmen ihn komisch. »Das kann man nicht aussprechen«, hatte der Nachschuboffizier den Kopf geschüttelt. Weil ihr Anschlag fehlerfrei war und der Stift über den Stenoblock flog, versuchte er es dennoch mit ihr.
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