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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten
Autoren: Michael Wallner
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änderte nichts. Er durchquerte den Salon, vor dem Korridor schloß er die Uniformjacke. Der dämmerige Raum, der gelbe Halbkreis vor dem Kamin: von der im Sessel verborgenen Generalin war nur die Hand auf der Lehne zu sehen.

37
    B ritische Bulldozer bauten britische Baracken ab. Der Kran fuhr von Haus zu Haus und lüpfte die Dächer, schwenkte sie zu Boden. Pioniere lockerten die Bolzen, schraubten ab, legten Einzelteile in die Schaufel des Caterpillars, der mit brüllendem Motor aufs Flugfeld rollte. Mannschaften, deren Büro oder Werkstatt bereits demontiert waren, lümmelten rauchend im Schatten, ihnen blieb nur das Warten auf den eigenen Transport. Während Inga unter den Bäumen vorüberging, sagte einer: »Die Offiziere werden ausgeflogen, unsereins muß sich mit einem Bahnticket begnügen.«
    Sie schaute zur Startbahn, die Hitze flimmerte über dem Beton, weit hinten verschwand ein Barackendach im Bauch der Transportmaschine. Hatte Alec sein Flugzeug schon bestiegen, war er über der Föhrenschonung nach Westen geflogen, hinaus über das Meer? Saß er bereits am Tisch der Familie und verteilte Geschenke?
    Tags zuvor hatte Inga ihn nicht wirklich erwartet, wie sollte er Ort und Zeitpunkt der Trauerstunde erfahren haben – und doch war sie zweimal ins Freie getreten, hatte die Straße hinuntergeschaut, ob nicht die Uniform mit den zu kurzen Hosenbeinen auftauchte. Ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen, hatte Erik sich angezogen, jeder Handgriff saß, der Hochzeitsanzug, der Hemdkragen beidseitig gebügelt, die schwarze Armbinde hatte er noch vom Leichenbegängnis seines Bruders. Lange Schritte auf dem Weg zum Bestatter, ein dankendes Nicken, als unterwegs jemand sein Beileid aussprach – beim Eintritt war der Vater getaumelt, Inga hatte seinen Ellbogen gefaßt, er weinte im Stehen.

    Â»Das ist der schwerste Teil«, hatte der Bestatter gemurmelt, nun kein Geschäftsmann mehr, er hatte sich in den mitfühlenden Begleiter des Abschieds verwandelt; Haltung, Aufzug, Blick entboten korrekte Trauer. Als Erik den Sarg sah, schrie er so verzweifelt auf, daß die Frau, die noch am Blumengesteck nestelte, zurücksprang. Inga führte den Vater zu der Bank, von wo aus er die Gäste begrüßen sollte. Für einen Partezettel hatte die Zeit nicht gereicht, sie hofften, die mündliche Benachrichtigung würde genügen. Willenlos saß der Vater da, ihm gegenüber seine Frau, verborgen durch Bretter und Blumen. Das Angebot des Bestatters, Marianne zur Ansicht zu präparieren, hatten sie abgelehnt. Weder Erik noch Inga war eine Inschrift für die Kranzschleife eingefallen – Marianne, die Mutter, vom Krieg überrascht, der ihr den Sohn nahm, Marianne  –, unbeschrieben lagen die schwarzen Bänder über den Sarg drapiert. Erik blieben wenige Minuten mit ihr allein, dann betraten Besucher den kleinen Saal.
    Inga stand am Rande der Startbahn, von hier war nicht auszumachen, ob die Wetterstation hinterm Wald schon abgerissen war. Die Sonne brannte ihr in den Nacken, die Bluse klebte am Rücken, sie war durstig, wandte sich um und erkannte, in welche Richtung Bulldozer und Kranwagen fuhren. Inga rannte und erreichte die Kommandobaracke vor den Maschinen. Jasper lag auf den Stufen, seinem bevorzugten Platz, sie streichelte ihn, die schwarzen Augen huschten zu ihr hoch und höher zum Kran, der hinter ihnen hielt. Der Motor heulte, die Montagestange wurde ausgefahren, sechs Pioniere erkletterten das Dach. Inga stieg über den Hund und betrat ihren früheren Arbeitsplatz.
    Sie hatten noch nicht alles fortgeschafft, auf dem Schreibtisch des Sergeants lagen Habseligkeiten, die nicht der Armee Seiner Majestät gehörten. Inga erkannte ihr blaues Tuch, das sie im Frühling als Schal getragen hatte, den Stenoblock mit ihrer Schrift, einen Briefentwurf, der jede Bedeutung verloren hatte. Die schwarze Maschine hätte sie gerne mitgenommen – nur Inga kannte ihre Tücken, wer brauchte das alte Ding schon in England? Gleichzeitig
wußte sie, wenn sie sich unerlaubt bediente, stimmte die Liste nicht mehr, und ein armer Büromensch auf der anderen Seite des Kanals hatte es auszubaden. Zwei Bleistifte und den benützten Radiergummi ließ sie in ihrer Tasche verschwinden, entdeckte das Papierschwänchen, das die frühere Sekretärin vor Wochen vergessen hatte; Inga packte es ein. Über ihr
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