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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Autoren: Sennett Richard
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der strengen Aufsicht der kirchlichen Autoritäten verabreicht werden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erklärte Papst Leo XIII. in seiner Enzyklika Rerum novarum , die Kirche müsse sich direkt mit Fragen der Arbeit und des Kapitals befassen, wenn der Staat den Arbeitern die nötige Hilfe verwehrte. Mutter Cabrini, eine seiner eifrigsten Anhängerinnen, wurde nach Chicago geschickt, damit sie dort unter italienischen und polnischen Einwanderern wirkte. Die von ihr gegründeten Gemeindezentren wurden in der örtlichen Presse zwar als Genossenschaften beschrieben, waren dies in Wirklichkeit aber nicht. Die direkte, persönliche Zusammenarbeit war für Mutter Cabrini ein Mittel oder ein Werkzeug zur Stärkung des persönlichen Glaubens und der Stellung innerhalb der Kirche. 20
    Die Catholic-Worker-Bewegung – so kann man bei allem Respekt behaupten – verfeinerte das Problem des Verhältnisses zwischen Gleichberechtigung und Unterwerfung. »The Aims and Means of the Catholic Worker« ist ein Glaubensbekenntnis, das sich »vom Leben der Heiligen inspirieren lässt«. Von einer Lenkung oder Leitung durch die kirchliche Hierarchie ist dort nirgendwo die Rede. Stattdessen betont die programmatische Schrift die Bedeutung der Person, die »Freiheit und Würde jedes einzelnen Menschen als zentrales Ziel aller Metaphysik und Moral«. 21 Während einer Friedensmission nach Rom vermerkte Day 1963 , dass der Papst im Petersdom hoch erhoben auf einer Sänfte durch die Menge getragen werde, sei kein Symbol seiner Überlegenheit, sondern habe rein praktische Gründe: »Wie sollte ihn sonst jemand sehen können, wenn man ihn nicht in dieser Weise geleitete?« 22
    Days Glaube an die offene lokale Gemeinschaft kreist um die Rolle der Religion bei dem Bemühen, die Menschen zu bewegen, sich füreinander einzusetzen und in dieser Zusammenarbeit ihre Berufung zu erkennen. Der Glaube, sagt sie, sei die zuverlässigste »Triebkraft« für soziales Engagement. Dem Geiste nach hat sie mit dieser Auffassung von der Macht des Glaubens einiges mit dem amerikanischen Philosophen William James gemeinsam. In Die Vielfalt religiöser Erfahrung bemerkt James, einer religiösen Bekehrung gingen häufig Phasen einer tiefen Depression und des Rückzugs von anderen Menschen voraus. Der einzelne Gläubige könne aus diesem Trauma mit dem Gefühl hervorgehen, als neuer Mensch aus der Asche des alten wiedergeboren zu sein. Diese Sicht auf Bekehrung unterscheidet sich deutlich von Freuds Interpretation der Trauer, die an Vergangenem festhält. James war in seinem Denken amerikanischer. Er glaubte, die Verwandlung stärke Moral, Engagement und Gesinnung gleichermaßen. Wie er in Die Vielfalt religiöser Erfahrung schreibt, müssen wir das Gefühl haben, ein anderer Mensch geworden zu sein, wenn wir uns engagieren sollen. 23 Day teilte diesen Glauben an die Macht der Bekehrung.
    Das führte in der Catholic-Worker-Bewegung zu einem Problem, nämlich zu einer Spaltung zwischen gläubigen und nichtgläubigen Aktivisten, die ihren Anfang schon zu Days Zeiten nahm und heute noch besteht. Die Catholic-Worker-Bewegung hat auch zahlreiche Nichtkatholiken und sogar einige nichtchristliche oder agnostische Aktivisten angezogen. Der Grund liegt gerade darin, dass die Bewegung offen ist und keine versteckten Ziele verfolgt. Sie konzentriert sich ganz auf die Bande zwischen den Menschen und ihr wechselseitiges Engagement. Obwohl das soziale Engagement bei Gläubigen wie Dorothy Day und den Ungläubigen, die ihre Bewegung angezogen hat, ähnlich ausgeprägt ist, gibt es doch auch ein gewisses Unbehagen zwischen beiden Gruppen. Die Gemeinschaft der Catholic Workers beweist bis heute in ihren Aktivitäten denselben radikalen Geist, den sie auch predigt. Meine Mutter lernte Dorothy Day durch einen gemeinsamen Freund, Mike Gold, kennen, den Autor von Jews without Money . Als sie Ende der 1930er Jahre die kommunistische Partei verließ, war die Catholic-Worker-Bewegung der erste Hafen, den sie anlief. Sie erzählte mir einmal von der »beunruhigenden Erfahrung«, anderen beim Glauben zuzusehen. Die Gläubigen lassen sich eher vom Glauben an ein höheres Gut als vom Glauben an das soziale Leben als Endzweck leiten, und aus diesem Grunde haben Nichtkatholiken, die in den hospitality houses arbeiten, oft das Gefühl, bloße Zuschauer zu sein.
    Bei dieser militanten Gruppe trat eine sehr alte, aus der Reformation stammende Spaltung wieder in Erscheinung, die im dritten Kapitel
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