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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Autoren: Sennett Richard
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Die Natur war für sie ein fremdes Terrain. Gordon glaubte, die europäischen Juden, ob arme Kleinhändler oder wohlhabende Ärzte oder Rechtsanwälte, hätten den Kontakt zur körperlichen Arbeit noch weiter verloren, weil sie nicht mit den Händen arbeiteten. Allerdings irrte Gordon sich hier. Um 1914 gab es in ganz Osteuropa zahlreiche jüdische Industriearbeiter. Dennoch war seine Abneigung gegen die landlose, nichtkörperliche Arbeit ebenso ausgeprägt wie die des amerikanischen Weisen Henry David Thoreau, nachdem er sich am Walden Pond niedergelassen hatte: Wer kein Vertrauen zur Natur haben konnte, war nicht wirklich selbständig, sondern seiner selbst entfremdet. 25 Angesichts einer Jahrtausende währenden Verfolgung der Juden und ihres Überlebens mag Gordons Urteil hart erscheinen, aber es wurde wahrscheinlich gemildert durch den Einfluss, den Leo Tolstoi auf ihn – wie auf viele andere – ausübte.
    Ein Jahrhundert danach lässt sich nur schwer vermitteln, wie Tolstois Kommunitarismus im »Silbernen Zeitalter«, den letzten zwei Jahrzehnten vor der Russischen Revolution, auf das Denken liberaler Russen wirkte. Seine Anhänger hielten Russland für weitaus kranker, als das Unterdrückungsregime des Zaren, Nikolaus II., dies zeigte. In ihren Augen waren die Gemeinschaftsbande, die Russland zusammenhielten, in Auflösung begriffen. Dadurch habe auch der persönliche Charakter der Menschen Schaden genommen. Tolstoi hatte ein bestimmtes, mit der Arbeit verbundenes Heilmittel im Sinn. Er meinte, privilegierte Menschen müssten durch die Bearbeitung des Bodens wieder zurück zu ihren Wurzeln finden und gewöhnliche Tätigkeiten in Gemeinschaft mit einfachen Menschen verrichten. Diese Vorstellung nimmt in seinem Roman Anna Karenina (1873–1877) in der Figur des Aristokraten Lewin Gestalt an, der durch die Rückkehr aufs Land wieder zu einem gesunden Menschen wird. (Zu meinen lebhaftesten Kindheitserinnerungen gehört eine ältere, elegante, mittellose Dame, eine Überlebende der Revolution, die mir Passagen aus Anna Karenina über die Tugenden der alten Bauernschaft vorlas.) Gordon kannte viele Passagen des Romans auswendig, aber für ihn als Juden hatten sie eine besondere Bedeutung. Die Juden sollten sich außerhalb Europas erneuern, indem sie sich körperlicher Arbeit zuwandten und wieder körperliche Kraft erlangten. Der aus Europa vertriebene Arzt sollte wieder stolz auf sich sein, weil er im Kibbuz mit eigenen Händen ein Haus errichtete, seinen eigenen Wein anbaute und die gemeinschaftliche Mahlzeit zubereitete. Im Kibbuz bedeutete Tolstoi, dass die Menschen wieder mit ihrem arbeitenden Körper in Kontakt kamen.
    Kooperation als Berufung zur Schlichtheit hat eine lange Tradition. Manche Franziskaner – wenn auch nicht Franziskus selbst – folgten diesem Gedanken und glaubten deshalb, Mönche sollten im Kloster die gröbsten Arbeiten verrichten, denn wenn sie die Böden fegten oder Gras mähten, fänden sie zu agapé , zur Gemeinschaft, wie die frühen Christen sie kannten. In der Moderne wurden im Namen der persönlichkeitsbildenden Kraft harter Arbeit viele Verbrechen begangen, von den Nazis bis hin zu Maos Kulturrevolution. Gordon dürfte allerdings bei seinem Loblied auf das einfache Leben eher in Gesellschaft Jean-Jacques Rousseaus gereist sein.
    Ein scharfsinniger Kommentator des Gordon’schen Denkens, Herbert Rose, verweist hier allerdings auf einen wichtigen Unterschied: »Gordon behauptete niemals, der Mensch sei von Natur aus gut … Die Natur steht in Gordons Augen nicht für Unschuld, sondern gilt ihm als Quelle von Vitalität.« 26 Das Hebräische bringt den Gegensatz zwischen Lethargie und Vitalität in zwei Begriffen zum Ausdruck. Zimzum bedeutet sowohl »Egoismus« als auch »Gespaltensein«. Kommt beides zusammen, geht die Vitalität zurück. Das Heilmittel ist histpaschtut , der natürliche Wunsch, anderen Menschen etwas zu geben und dadurch selbst zu einem Ganzen zu werden. Das erinnert stark an Dorothy Days caritas , aber auch hier gibt es einen wichtigen Unterschied. Beim histpaschtut geht es ausschließlich um das richtige Handeln im Hier und Jetzt. In Gordons Philosophie gibt es keine Transzendenz. Genauso wenig gibt es dort Misstrauen, Zynismus oder Resignation, sämtlich Züge, die nach Gordons Ansicht die jüdische Kultur in der Diaspora entstellt hatten. Jede Kooperation hat unmittelbar eine heilende Wirkung auf das Ich, während sie in Dorothy Days christlicher Theologie nur
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