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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Autoren: Sennett Richard
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erörterte Frage des Schauspiels. Im alltäglichen Leben der Gemeinschaft zeigte sich diese Spaltung in der Frage der Rituale und vor allem der Gebetsrituale. Zwar ist dort niemand zum Beten verpflichtet, aber die Gläubigen brauchten das Gebet. Rituale sind für militantes, auf dem Glauben basierendes soziales Handeln nicht unerlässlich. Wie gleichfalls im dritten Kapitel angemerkt, verzichteten die Quäker auf Rituale und hielten dennoch an ihrem Glauben fest. Und in Bruderschaften wie den amerikanischen Elks Clubs oder den britischen Gilden, die zu Wohltätigkeitsvereinen geworden sind, bedient man sich häufig auch weltlicher Rituale. Allerdings befinden sich die Zuschauer in der Catholic-Worker-Bewegung in einer etwas unbehaglichen Lage, denn wenn ein Nichtkatholik um einer guten Zusammenarbeit willen zu Gott betete, wäre das ein schlimmes Täuschungsmanöver.
    In der Catholic-Worker-Bewegung zeigt sich noch ein allgemeineres Problem radikalen, auf dem Glauben basierenden Handelns, das sich in rein sozialen Begriffen beschreiben lässt: das Problem der Gleichberechtigung von Überzeugungen. Aktivisten, deren Handeln im Glauben gründet, stellen vielleicht keine neidvollen Vergleiche an – jene in der Catholic-Worker-Bewegung tun es jedenfalls nicht –, aber bei anderen ist das fast unvermeidbar. Die nichtreligiösen Mitglieder sehen wie durch ein Fenster, was ihnen fehlt. Krass formuliert, laufen sie Gefahr, zu Konsumenten des Engagements der Gläubigen zu werden. Oder anders ausgedrückt: Bei den Gläubigen sollte die Hilfe für den Nächsten aus dem Glauben an ein höheres Wesen erwachsen, während es Nichtgläubigen allein um den anderen Menschen geht. Daraus ergibt sich ein Paradoxon. Im Reich des glaubensbasierten Radikalismus mag der Gläubige sich von Motiven leiten lassen, die ganz auf Inklusion ausgerichtet sind, doch der Nichtgläubige kann mit gutem Gewissen nur zu dem Schluss gelangen, dass er nicht dazugehört.

Die schlichte Gemeinschaft

    Ein recht abgenutztes Buch auf dem Bücherregal meiner Familie war eine Sammlung von Schriften eines russischen Visionärs namens A. D. Gordon, der von 1856 bis 1922 lebte. 24 Sein Gemeinschaftsverständnis war in gewisser Weise therapeutisch geprägt. Das Engagement für andere Menschen könne und solle innere psychische Probleme lösen. Dabei war er weder ein Anhänger Max Webers noch ein Psychologe. Gordon bot stattdessen eine philosophische Vision für den Kibbuz, eine auf einer gemeinsamen Identität basierende Gemeinschaft, in der die Kooperation zu einem Ziel an sich wurde.
    In gewisser Weise ist der Kibbuz ein jüdischer Nachfolger jener Institute, die im 19. Jahrhundert für ehemalige Sklaven gegründet wurden, denn Gordon glaubte, dass die Mitglieder des Kibbuz dort ihre Selbstachtung zurückgewinnen und dadurch enger zusammenrücken konnten. Seinen Feind sah er in den gedrechselten Feinheiten der Alltagsdiplomatie. In Europa waren die Juden zu dieser Alltagsdiplomatie gezwungen, wenn sie überleben wollten. Im Kibbuz, so hoffte Gordon, könnten sie dagegen die Maske ablegen, die sie in Europa trugen, um sich einer feindseligen Gesellschaft anzupassen.
    Der Kibbuz schlug Ende des 19. Jahrhunderts in Palästina Wurzeln, und in den 1960er Jahren begann sich sein ursprünglicher Zuschnitt in Israel zu verlieren. In seinen Anfängen war der Kibbuz eine ländliche Arbeitskooperative, die harte und oft ungelernte manuelle Arbeit in den Vordergrund stellte. Was den letztgenannten Aspekt betrifft, unterschied der Kibbuz sich von den beschriebenen Instituten. Überdies war er eine explizit sozialistische Einrichtung: Man zog die Kinder gemeinschaftlich auf, reduzierte die Bedeutung des Privateigentums auf ein Minimum und sorgte dafür, dass die Gemeinschaft als Ganze von den Früchten ihrer Arbeit profitierte.
    Gordon war gut vorbereitet für die Unbilden dieses allumfassenden Gemeinschaftslebens, als er 1904 aus Russland nach Palästina emigrierte. In Russland arbeitete sein Vater für die mächtige Familie Günzburg, mit der er auch verwandt war, und Aaron David (wie sein voller Vorname lautete, den er in seinen Schriften jedoch nicht verwendete) arbeitete auf einem Gut derselben Familie. Er kannte sich mit Landwirtschaft aus. Die Reflexionen dieses äußerst philosophischen Landwirts kreisten unter anderem um die Tatsache, dass die meisten Juden sich nicht damit auskannten.
    In den meisten Teilen Osteuropas war es den Juden verboten, Land zu besitzen.
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