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Fern wie Sommerwind

Fern wie Sommerwind

Titel: Fern wie Sommerwind
Autoren: Patrycja Spychalski
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Ich schreibe Briefe an meine Zukunft. Und jedes Mal, wenn ich sie in den Briefkasten werfe, merke ich, dass sie falsch adressiert sind …
    DIESER SATZ SPUKT seit dem frühen Morgen in meinem Kopf herum. Eigentlich schon seit dem Aufwachen, da hatte ich ihn leise wiederholt, immer wieder, um ihn aus dem Traum mitzubringen. Ich stand ewig vor dem Spiegel, mit der Zahnbürste im Mund, und überlegte, wo der herkam. War das ein Zitat? Oder hatte ich mir diesen Satz irgendwann einmal ausgedacht und in eins meiner Tagebücher geschrieben? Und warum konnte ich mich nicht richtig daran erinnern?
    Jetzt stehe ich am Strand, schaue den kleine Wellen zu, die über den glatten Sand schwappen, und überlege immer noch. Ich rücke das bunte Baumwolltuch zurecht, das ich mir zum Schutz gegen die Sonne um den Kopf gebunden habe. Dass man sich so schlecht an Dinge erinnert, die noch gar nicht lange zurückliegen können, finde ich wirklich quälend. Man sucht und sucht, ganz tief, in den hintersten Hirnwindungen und bekommt unterdessen Kopfschmerzen davon. Heute früh habe ich prophylaktisch zwei Paracetamol geschluckt, aber manchmal hält das nicht den ganzen Tag, und es findet sich trotzdem irgendein Grund, warum dieser stechende Schmerz, der meistens im rechten Auge beginnt, sich seinen Weg bis in den Hinterkopf bahnt.
    »Das ist Migräne, Schätzchen«, sagt Mama dann immer und bringt mir kalte Kompressen, die aber kaum was helfen. Sie zieht die Jalousien runter und kocht literweise Melissentee. Sie singt leise irgendwelche Schlaflieder. Das ist nett gemeint, aber im Grunde anstrengend, denn das Einzige, was wirklich hilft, ist Ruhe. Ich habe ihr das schon oft versucht zu erklären, aber Mütter können einen offenbar nicht in Ruhe lassen, sie müssen stattdessen alle fünf Minuten nach dem Rechten sehen und fragen: »Geht’s schon besser?« Irgendwann werde ich dann pampig, und sie beleidigt, und das macht die Kopfschmerzen nur noch schlimmer.
    Jetzt ist Mama nicht da. Ich kann also meine Stirn vor Schmerz in Falten legen, ohne dass gleich jemand um mich herumspringt, der helfen möchte.
    Ich grabe meine Zehen in den warmen Sand, der, je tiefer man kommt, immer kühler wird, und nasser, und an der Haut kleben bleibt. Ich massiere mir die Schläfen mit kleinen Kreisen, erst ganz sanft und schließlich mit mehr Druck, so lange bis der Schmerz des Druckes und der des Kopfes ungefähr gleich stark sind und sich für einen kurzen Augenblick gegenseitig aufheben. Dann hole ich aus meinem Rucksack die Halbliterflasche mit Lemon Ice Tea und trinke ein paar Schlucke, nicht zu viel, damit ich nicht gleich wieder pullern muss.
    Also, was ist das mit der Zukunft und den Briefen nun? Ich muss mir den Satz merken und, wenn ich wieder zu Hause bin, alle meine Tagebücher danach durchstöbern. Wahrscheinlich kommt der wirklich von mir. Aufgeschrieben in einem Anfall von Verzweiflung, bei dem Versuch, diese schrekliche Langeweile zu vertreiben, die mich manchmal überkommt, sodass ich das Gefühl habe, daran ersticken zu müssen.
    Aber jetzt bin ich erst einmal hier, weit weg von zu Hause, in diesem kleinen, kinderfreundlichen Touristenörtchen an der Ostsee, wo fast nur Familien ihren kostbaren Urlaub verbringen. Die Kinder können hier kreuz und quer über den Strand flitzen, laut sein und weinen, wegen dem Eis, das in den Sand gefallen ist, und alle nicken mitfühlend, sind verständnisvoll und lächeln sich an.
    Ich habe genug Zeit, mir das Treiben in Ruhe anzuschauen, denn ich arbeite hier als Strandverkäuferin. Ich verkaufe Drachen an eben diese Kinder, die gerade erst ihr Eis verloren haben und von den Eltern, zum Trost und zur Ablenkung, mit einem bunten Drachen beschenkt werden.
    Das Eis vorher hat ihnen Rocco verkauft, auch einer von uns Strandverkäufern, von denen es hier ein paar gibt. Martin und James verkaufen Popcorn. Ruth verkauft Eiskaffee. Und dann gibt es noch ein paar Typen, die verkaufen heiße Bockwürste mit Senf. Der größte Renner hier am Strand. Das verstehe ich nicht, schließlich ist es schon heiß genug, da muss man sich nicht noch heiße Würstchen antun.
    Drachen zu verkaufen ist die dankbarste Aufgabe. Drachen sind schön und bunt und bringen die Kinderaugen zum Glänzen – vor allem, wenn die Väter mit der Schnur losrennen, sich halb verheddern im Windschutz anderer Badegäste, entschuldigend den Mund verziehen, beinahe stolpern und schließlich doch den Drachen in die Lüfte ziehen, so hoch, bis er sich
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