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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe
Autoren: Markus Orths
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    U nd dann das: Gerade erst hatte er sich hingesetzt und die Beine aufs Höckerchen geschoben, die Platte aufgelegt und den Kopfhörer in die Hand genommen, bereit, das Leben und den Alltag zu vergessen und vor allem diese seltsame Begegnung am Morgen, und dann das: die Klingel, kurz, einmal, zweimal, die Klingel, dreimal. Simon setzte den Kopfhörer auf: Sacco und Vanzetti , seit längerem mal wieder, die Vertonung des Freiheitsstatuengedichts, das große Morricone-Lied. Aber Simon bekam das Klingeln nicht aus dem Kopf, dieses Klingeln, jetzt, an seinem freien Samstagnachmittag, den er seit jeher für die Filmmusik reserviert hatte. Kurz versuchte er sich einzureden, dass es ein Nachbar sein könnte, mit einer simplen Frage nach Zucker oder Zwiebeln, doch als Joan Baez von den Müden, Armen und Heimatlosen sang, wusste Simon, dass er sich etwas vormachte, er wusste, dass er nur aus einem einzigen Grund die Sacco-und-Vanzetti -Platte hervorgekramt hatte, die Begegnung am Morgen, an der Straßenbahnhaltestelle: dieser bettelnde Mann mit Kopftuch und Strohhut. Und wenn das tatsächlich Gregor gewesen war? Und wenn Gregor ihn, Simon, erkannt hatte? Und wenn der Ausruf des Manns, sein letztes Ha! , ein Zeichen für dieses Erkennen gewesen war? Dann könnte Gregor an der Haltestelle auf Simons Rückkehr gewartet haben, um ihm heimlich zu folgen und herauszufinden, wo er wohnte, ja, dann würde Gregor jetzt draußen stehen und klingeln.
    Simon setzte sich aufrecht hin und ließ den Kopf kreisen, um eine Verspannung zu lösen. Aber auch in der Pause zum nächsten Stück, noch unterm Kopfhörer, drang es schwach an seine Ohren, das Klingeln. Simon saß dort und wartete auf das Ende der Platte, auf ihr letztes Leiern, auf das Summen, mit dem der Nadelarm zurückschwebt. Here’s to you Nicola and Bart / Rest forever here in our hearts / The last and final moment is yours / That agony is your triumph . Simon konnte den Reigen nicht genießen, die endlose Wiederholung dieser Zeilen, das Insistierende der Musik, die sich nicht entwickelte, sondern in fortwährendem Kreisen um sich selbst den Moment zementierte, in dem Sacco und Vanzetti feststeckten, das Warten auf die Hinrichtung, er konnte den Reigen nicht genießen, weil er wusste, dass die Musik doch noch enden würde, enden musste, so, wie Saccos und Vanzettis Leben enden würde, enden musste. Der elektrische Stuhl. Wie man sich fühlt, wenn man zu ihm hingeführt wird, in Erwartung dessen, was unausweichlich geschieht? Wenn man weiß, dass der Tod kurz bevorsteht, ein paar Minuten, eine Minute, wenige Sekunden, jetzt, sofort, hier? Wenn ich sehenden Auges zum Abgrund geführt werde in der Gewissheit, es stößt mich einer hinab? Die Allgegenwart des Todes, die überall lauernde Möglichkeit des Endes, ist nur aus einem einzigen Grund zu ertragen: weil man nicht weiß, wann es soweit ist. Simon lüpfte den Kopfhörer. Es klingelte jetzt ohne Pause, ein Sturmklingeln, das nicht eher enden würde, ahnte Simon, bis er die Tür öffnete. Doch er wehrte sich dagegen, trat ans Fenster und schaute nach unten. An der Haustür: niemand. Also musste Gregor vor der Wohnung stehen, hier oben, der Kerl klopfte nicht, er trommelte nicht gegen die Tür, er beschränkte sich aufs Endlosklingeln. Wenn ich ihn reinlasse, dachte Simon, kommen wir auf die verdammte Vergangenheit zu sprechen, und das will ich nicht. Simon verfluchte den Altbau, in dem er wohnte, weil es in der Tür keinen Spion gab, durch den er hätte spähen können, um zu sehen, wer wirklich dort stand, aber wer, dachte Simon, sollte das sein, wenn nicht Gregor? Es gibt keine andere Möglichkeit. Wer sonst besäße die Frechheit, ein solches Endlosklingeln zu zelebrieren? Keine Unterbrechung, kein Absetzen, keine Pause. Der wird nicht aufhören, dachte Simon und wusste, dass er dem Kampf nicht gewachsen war, sein Widerstand bröckelte, er hatte keine Lust, sich zu verschanzen und die Ohren zu verstopfen oder sich mit Kopfhörer in die Badewanne zu legen. Am Ende, ganz am Ende von allem würde er nicht darum herumkommen, Gregor zu öffnen. Also könnte er es auch sofort tun. Zwanzig Minuten klingelt der jetzt schon, dachte Simon in der Küche, ein Glas kalte Cola in der Hand, ich will endlich, dass es aufhört. Mit einem Ruck stürzte er das Glas hinunter und aus der Küche in den Flur, und ohne weitere Überlegung riss er die Tür auf.
    Draußen stand niemand. Kein Gregor, kein anderer Mensch, alles leer. Die Klingel?
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