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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe
Autoren: Markus Orths
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fischte die Zeitung aus dem Rohr, stieg wieder nach oben, legte die Zeitung auf den Küchentisch, schmierte zwei Brote, eins mit Leberwurst, eins mit Marmelade, trank zum Leberwurstbrot ein Glas Orangensaft und zum Marmeladenbrot den herben, ungesüßten Kaffee, und währenddessen rührte er die Zeitung, die vor ihm lag, nicht an, sondern schaute auf den Tisch oder auf die schläfrig an der Wand tickende Uhr. Um sieben stellte er den Teller in die Spülmaschine, putzte sich die Zähne, zog Jackett und Schuhe an, und um zehn nach sieben griff er zur Zeitung.
    Eigentlich hasste er Zeitungen. Sie stanken nach Druckerschwärze und fühlten sich klebrig an, außerdem waren sie viel zu groß. Er hasste es, mit aufgeschlagener Zeitung irgendwo zu sitzen, hasste den Kampf, den das umständliche Aufblättern mit sich brachte, hasste es, seine Arme beim Lesen wie ein Priester ausgebreitet halten zu müssen, aber er hätte nie auf die Zeitung verzichten können, ohne sich der Welt entrückt zu fühlen. Es muss doch gelingen, hatte Simon schon vor Jahren gedacht, dieses Zeitungsungetüm zu zähmen. Und so hatte er ein Ritual ersonnen, das ihn inzwischen mit tiefer Befriedigung erfüllte. Jeden Morgen legte er die großen Zeitungsbögen rittlings über die Stuhllehne, sodass zu beiden Seiten je eine Hälfte herabbaumelte: wie die Flügel erlegter Engel. Er nahm den Mantelbogen und faltete ihn zusammen, ohne Eile, die Prozedur bereitete ihm stilles Vergnügen, einen Zeitungsbändiger nannte er sich, einen Zeitungsdompteur, er knickte den Bogen fünfmal, falzte jeden Knick geschmeidig, bis der Bogen auf Taschenbuchgröße zusammengeschnurrt war und Simon ihn in seine linke Jacketttasche stecken konnte. Dasselbe geschah mit den übrigen Bögen. Dann klopfte Simon noch einmal auf den dicken Packen Papier vor seinem Herzen, verließ die Wohnung und machte sich auf den Weg. Er freute sich auf die Fahrt, die vor ihm lag. Denn jetzt, in der Straßenbahn, suchte er sich stets den vorderen Platz hinterm Fahrer, zog den ersten Bogen seiner gefalteten Zeitung hervor, entblätterte und las ihn, ehe er den Bogen wieder sorgsam zusammenfaltete, in die rechte Jacketttasche wandern ließ und zum nächsten griff. Beim Lesen legte Simon das Kinn auf die Brust und sah aus wie ein erstarrter Stier mit gesenktem Kopf, kurz vorm Stoß ins rote Tuch. So zerlas er Bogen für Bogen seiner Zeitung, und seit einiger Zeit war er dazu übergegangen, die gefalteten Bögen nicht, wie anfangs, der Reihe nach aus der Tasche zu ziehen, sondern wahllos, sodass er nie wusste, welchen Teil der Zeitung er zu fassen bekam, ob Politik, Wirtschaft, Feuilleton oder Sport: Das war das einzige Überraschungsmoment in seinem Leben. Er las auf der Hinfahrt, auf der Rückfahrt, in der Kaffee- und Mittagspause. So wusste er, was um ihn herum geschah, und am nächsten Tag würde eine neue Ausgabe erscheinen, ewiger Fortgang, die Zeitungen kannten nur eine Richtung, Simon folgte ihnen begierig, er hasste das Zurückblicken, und daher warf er, zu Hause angekommen, den Packen zerlesener Bögen sofort in die Tonne fürs Altpapier. Dann zog er die Schuhe aus, setzte sich in den Sessel und tat erst mal eine Viertelstunde lang nichts, ehe ihm dieses Nichts zu nahe kam, weshalb er aufstand und all die Dinge verrichtete, die eben zu verrichten waren.
    Jetzt aber, an diesem Samstagmorgen, war alles anders gewesen. Auch samstags musste Simon zur Arbeit. Bis vierzehn Uhr. Beim Falten der Zeitung verzichtete er auf sämtliche Sonderbeilage n – Reise, Immobilien, Anzeige n –, weil seine Jacketttasche für eine komplette Wochenendausgabe zu klein gewesen wäre. Auch an diesem Samstag verließ er das Haus und wartete auf die Straßenbahn. Da sah er, wohl hundert Meter neben der Haltestelle, einen Mann auf dem Boden sitzen. Simon blickte zur elektronischen Anzeigetafel. Die Straßenbahn käme in zwei Minuten. Simon schüttelte sich kurz, gab sich einen Ruck und ging auf den Bettelnden zu. Er wusste, zwei Minuten, das würde reichen, um hinzugehen, Geld in den Hut zu werfen und umzukehren. In der Straßenbahn würde er den Mann wieder vergessen, spätestens nachdem er den zweiten Bogen seiner Zeitung gelesen hatte, und es war wichtig für Simon, die bettelnden Männer und Frauen zu vergessen, denen er Geld gab. Er durfte nicht allzu lange über sie nachdenken, sonst breitete sich eine Traurigkeit in ihm aus, die ihn für Stunden aus dem Konzept bringen konnte.
    Schon nach wenigen Schritten
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