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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe
Autoren: Markus Orths
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würde. Ich habe kein Talent, dachte er, oder wenn, dann nicht genügend. Ich bin kein Nichtskönner, aber ein Nichtgenugkönner. Ich muss es mir eingestehen. Ich darf keine Zeit mehr verlieren. Ich muss mich dem stellen, dem sich alle Menschen irgendwann stellen: dem Leben. Ich bin nicht anders als die beiden, die hier vor mir sitzen. Ich bin genauso, ich bin der mittelmäßige Mensch, nicht mehr und nicht weniger, und erst wenn ich das verstehe, kann ich anfangen, es zu akzeptieren, erst dann kann ich als mittelmäßiger Mensch arbeiten, leben, sterben. Ich muss aufhören, mir etwas vorzumachen. Ich muss aufhören, Dinge zu sehen, die es nicht gibt und nie geben wird. Bis jetzt habe ich es nicht geschafft, ein Komponist zu werden, und auch in Zukunft werde ich es nicht schaffen. Mein Ziel muss sich ändern. Ich muss ein Ziel finden, das ich bewältigen kann, ein Ziel, das mir entspricht, und keins, dem ich entsprechen will. Wenn mir das nicht gelingt, dachte Simon, werde ich draufgehen. Dann werde ich irgendwann nicht mehr aufhören können zu trinken und zu rauchen und werde noch nicht mal mehr spielen können, noch nicht mal mehr diesen Job hier behalten können, meine Finger zittern jetzt schon, in fünf Jahren werde ich vom Hocker fallen. Simon stand auf, schüttete den abgestandenen Rest Bier in sich hinein, rülpste laut, etwas, was er nie getan hatte und was überhaupt nicht zu ihm passte, aber es markierte das Ende einer Ära, er drückte die Zigarette aus, legte das angebrochene Päckchen zum Pärchen auf den Tisch, sagte ihnen, fangt ihr doch an zu rauchen, ging zum Wirt, der ihn erstaunt ansah, und teilte ihm mit, er werde nicht mehr kommen, er müsse raus hier, und Simon verließ die Kneipe, ohne jemals wieder zurückzukehren. Am Fluss ging er spazieren. Sah Enten, die in der Nacht sich versteckten. Ging nach Hause, nahm seine vollgekritzelten Notenhefte, wollte sie schon verbrennen, stand mit Feuerzeug am Waschbecken, dann aber trübte sich sein Blick, er ließ das Feuerzeug in die Hosentasche gleiten, packte die Notenhefte und stopfte sie in die hinterste Ecke des Schranks. Es fiel ihm schwer, nicht mehr zu trinken. Es fiel ihm schwer, nicht mehr zu rauchen. Aber er sagte sich, so kann es nicht weitergehen, es muss Schluss sein mit Seifenblasen, es muss ein richtiges Leben beginnen, ein hörbares Leben, ein sichtbares Leben, ich bin dreißig, sagte sich Simon, ich habe keine Arbeit, ich habe nichts, ich habe nur einen verfaulten Traum, es wird Zeit, den Kopf zu lüften. Und er besuchte Fortbildungs- und Umschulungsprogramme, absolvierte Bewerbungsgespräche, wurde eingestellt, Brönner & Co., und damit begann ein Leben der Gleichförmigkeit, wie er es gesucht hatte, ein eintöniges, aber geregeltes Leben, der Weg in einen selbst gewählten Käfig, und der Käfig war anfangs noch eng und sperrig, aber Simon gewöhnte sich an ihn, die alltäglichen Verrichtungen sponnen ihn ein, und je weniger er vom Leben erwartete, umso besser fand er sich zurecht, bis er es schließlich genoss, jeden Morgen in der Straßenbahn zu sitzen und seine Zeitung Bogen für Bogen zu entfalten.

4
    S imon hielt inne. Er war erschöpft. Sein Wasserglas leer. Er sah hinüber zu Gregor. Der sagte nichts. Trank einen Schluck. Simon hätte nicht sagen können, was genau er Gregor gerade erzählt hatte. Ob er lange gesprochen hatte. Oder kurz. Ob er alles so ausführlich dargestellt hatte, wie es als Erinnerung in seinem Kopf lag. Wahrscheinlich hatte er nur die Eckdaten wiedergegeben. Es war ihm egal. Simon ging in die Küche und füllte erneut die Gläser, kehrte zu Gregor zurück, setzte sich, trank in kleinen Schlucken, um sich am Sprechen zu hindern. Denn jetzt wäre für Simon der Augenblick gekommen, über seine Frau zu reden, und das wollte er nicht. Schweigen breitete sich aus. Gregor schien über etwas nachzudenken.
    »Und du?«, fragte Simon jetzt, um das Schweigen zu brechen.
    »Was ist mit mir?«
    »Du hast doch auch gelebt inzwischen.«
    Gregor lächelte.
    »Warum läufst du so rum?«, fragte Simon.
    Und da änderte sich Gregors Miene. Das ging ruckartig, als verzerre sich etwas. »Hör zu«, sagte Gregor, der immer noch seinen Hut samt Kopftuch trug. »Du musst mir helfen.«
    Simon sagte nichts.
    »Da sind ein paar Leute hinter mir her. Ich kann mich nicht mehr verstecken. Bislang hab ich mich gut verstecken können, weißt du, das ist eine lange Geschichte, bisher ist es gut gelaufen, ich hab mich versteckt, jetzt
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