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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe
Autoren: Markus Orths
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Lebenswut, die er längst erkaltet glaubte, und die Wut zielte auf Gregors Unverschämtheit, auf sein Eindringen, seine Aufdringlichkeit. Simon wusste, er würde diese alte Wut brauchen, um dem, was folgte, gewachsen zu sein, er musste ein Stück des Erloschenen wieder anfachen, um Gregor Paroli bieten zu können. Und wie zum Teufel war der Kerl überhaupt hier reingekommen? Er wollte ihn fragen, aber Gregor war schon ins Wohnzimmer gegangen. Simon folgte ihm und sah sofort den Koffer. Er sprang ihm geradezu ins Auge, ein schwarzer, nagelneuer Aktenkoffer, den er am Morgen nicht bei Gregor gesehen hatte, jetzt aber lag der Koffer wie ein fremdes Wesen, das nirgends dazugehörte, auf dem Wohnzimmertisch. Gregor setzte sich.
    »Wie bist du reingekommen?«, fragte Simon.
    »Wir müssen reden. Hast du was zu trinken?«
    »Ic h … Was willst du?«
    »Wasser.«
    Simon ging in die Küche. Er drehte den Hahn auf, hielt ein Wasserglas darunter und nahm noch ein zweites Glas, wobei er sich fragte, weshalb zwei? Wenn er jetzt mit zwei Wassergläsern zu Gregor zurückginge, sähe das aus wie eine Einladung zum Plaudern, so, als hätte er nichts dagegen, dass Gregor jetzt hier bei ihm saß und mit ihm reden wollte, doch Simon musste sich eingestehen, dass er tatsächlich nichts dagegen hatte, denn in ihm war eine ungeahnte Neugier erwacht, auf alles, was gerade geschah, und seltsamerweise auch auf alles, was in den Jahren geschehen war, in denen sie sich nicht gesehen hatten.
    Gregor nahm Simon das Glas aus der Hand. »Und? Filmkomponist?«, fragte er und deutete mit dem Glas auf das Plakat von Bandolero .
    Und es geschah, was Simon insgeheim befürchtet hatte, ein Wechsel der Vorzeichen, die Verlagerung des Geschehens, denn obwohl er sich fest vorgenommen hatte, nichts von sich selbst preiszugeben, obwohl er Gregor fragen wollte, wie er reingekommen war und was es mit dem Koffer auf sich hatte und weshalb er so verstört wirkte und wieso er in dieser komischen Aufmachung herumlief, geschah das Gegenteil. Es war Gregor, der fragte, und Simon leistete keinen Widerstand, hörte sich plötzlich selber reden, ihm war, als hätte ein Stück in Es-Dur gespielt werden sollen, und nun ertönte ein Stück in h-Moll. Simon hatte seit dem Tod seiner Frau nicht mehr so viel geredet. Die Freizeit verbrachte er am liebsten mit sich selbst, seinen Platten und seinem Klavier, und im Büro gab es kaum Veranlassung zu reden, im Gegenteil, man hatte ihn eingestellt, weil er so gut zuhören konnte, als Blitzableiter für wütende Anrufe, und weil er über eine gewisse Kunst der Formulierung verfügte, die ihm half, den erhitzten Beschwerdebriefschreibern etwas von ihrer Wut zu nehmen. Jetzt aber brach es, je länger er redete, umso sprudelnder hervor. Simon erzählte von seiner Leidenschaft, von Filmmusik und Filmkomponisten, die er runterbeten konnte wie nichts, erzählte von seinem Musikstudium und davon, wie er geschuftet hatte, ein Besessener. Als Student hatte er sich eine Kordelanlage gebaut, mit der er seine kleinen Hände spreizen wollte, damit ihm gelänge, was allen wahren Virtuosen gelang, nämlich eine Spanne auf dem Klavier zu überbrücken, die eine plumpe Oktave deutlich übertraf, und dann war ihm im Eifer des Gefechts die Sehne des kleinen Fingers gerissen, es blieb ein irreparabler Schaden zurück, der Finger hatte an Beweglichkeit eingebüßt und sein blinder Ehrgeiz ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Mit diesem verkrüppelten Finger würde er die Prüfungen nicht meistern können: Weder Bach noch Beethoven noch Schostakowitsch lassen sich ohne kleinen Finger spielen. Da erzählte ihm ein Kommilitone, dass Robert Schumann ein ähnliches Missgeschick widerfahren war. Der hatte, zur Stärkung des schwachen Ringfingers, ein Gerät erfunden, das er unaufhörlich erprobte, bis er sich eine Sehnenscheidenentzündung zuzog, durch die der Finger unbrauchbar wurde, zum Glück für die Musikgeschichte, denn wäre dies nicht geschehen, hätte Schumann vielleicht seine konzertante Karriere forciert und sich nicht zu dem grandiosen Komponisten entwickelt, der er letztendlich geworden war. Simon schöpfte neuen Mut. Vielleicht, dachte er, würde auch er ein Schumann werden, ein Robert Schumann der Filmmusik, vielleicht war der Sehnenriss ein Zeichen. Simon kehrte der Hochschule den Rücken und jobbte in einer Eckkneipe, spielte dort Klavier, ein bisschen Jazz, ein bisschen Improvisation, aber vor allen Dingen Filmmusik, alles
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