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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe
Autoren: Markus Orths
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Runtergedrückt von unsichtbarer Hand. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Simon kniff die Augen zusammen und stöhnte auf: In der Ritze des Klingelknopfs steckte ein winziger, abgebrochener Streichholzsplitter, der die Klingel gedrückt hielt. Und Simon sah die feixenden Nachbarsjungen förmlich vor sich, die ihm diesen Streich gespielt hatten. Trotzdem musste er lächeln. Immerhin kein Gregor. Simon versuchte, den Streichholzsplitter aus der Ritze zu ziehen, es gelang ihm nicht, der Splitter war viel zu kurz, außerdem zitterten seine Finger noch vor Aufregung. Er ließ die Wohnungstür offen, ging ins Badezimmer, fand erst nach längerem Suchen eine Pinzette, kehrte zurück und zupfte den Streichholzsplitter heraus. Endlich Ruhe. Simon schnaufte. Aber sein eigenes Schnaufen war nicht das einzige Schnaufen, das er hörte. Es schnaufte auch von der Treppe her. Als Simon ans Geländer trat, sah er nicht etwa Gregor Strack, mit Kopftuch und Strohhut, sondern die alte, asthmatische Frau Kubelik von gegenüber, die sich mit drei Plastiktüten die Treppe hinaufmühte.
    »Warten Sie, ich helf Ihnen!«, rief Simon, lief die Stufen nach unten und nahm Frau Kubelik die Taschen ab.
    »Das ist aber nett«, sagte Frau Kubelik.
    Gemeinsam stiegen sie hoch. Frau Kubelik öffnete die Tür zu ihrer Wohnung.
    »Soll ich Ihnen die Tüten reintragen?«, fragte Simon.
    »Ja, danke, gern!«, sagte Frau Kubelik.
    Simon folgte ihr in die Wohnung und stellte die Tüten auf den Küchentisch.
    »Möchten Sie ein Bonbon, junger Mann?«
    Simon verneinte.
    »Ob sie wohl so freundlich wären, mein Küchenfenster aufzumachen?«, fragte Frau Kubelik. »Das klemmt immer so.«
    »Sicher«, sagte Simon, öffnete das Küchenfenster, und es rutschte ihm beinah aus der Hand, da von draußen ein kräftiger Windstoß in die Küche wehte und durch die Küche in den Flur und durch den Flur ins Treppenhaus, und dann hörte Simon einen Knall. Er ahnte, dass seine eigene Wohnungstür durch die Zugluft ins Schloss gefallen war, verließ die Kubelik-Wohnung, fand die Ahnung bestätigt, stand vor seiner Tür, barfuß, wie er nun bemerkte, auf der rauen Matte, leicht fröstelnd, in Hemd und Hose, ohne Schlüssel.
    Und jetzt? Es wäre ein Leichtes, in die Kubelik-Wohnung zurückzukehren und den Schlüsseldienst zu rufen. Aber Simon zögerte. Er stand dort. Etwas ging in ihm vor. Etwas weitete sich. Er schloss kurz die Augen. Und ging nicht zurück in die Kubelik-Wohnung. Er rief nicht den Schlüsseldienst an. Nein. Er tat ganz was anderes.
    Er klingelte.
    Er klingelte an seiner eigenen Tür.
    Er klingelte, obwohl er mit vollkommener Sicherheit wusste, dass sich niemand in seiner Wohnung befinden konnte. Trotzdem klingelte er. Und weil er so selbstverständlich klingelte, war er auch nicht wirklich überrascht, als die Tür aufging, der Mann mit Kopftuch und Strohhut sein Gesicht in den Rahmen schob und sagte: »Hast dich ausgesperrt, Simon?«
    »Gregor?«, flüsterte Simon.
    »Na, komm halt rein, Mensch!«

2
    A n diesem Samstagmorgen war Simon Bloch wie üblich um halb sieben vom Zirpen seines Tennisballweckers wach geworden, einem Relikt aus Studententagen, gelb, rund und borstig. Simon hatte sich das Ding zu einer Zeit gekauft, als er das Aufstehen noch abgrundtief verabscheute und jeden Morgen mit gutturalem Grunzen begrüßte, denn der Tennisballwecker war eigens für Morgenmuffel konzipiert: Wenn er ansprang, ballerte man ihn gegen die Wand, und durch die Wucht des Aufpralls schaltete er sich ab, um noch dreimal, viermal durch die Wohnung zu hoppeln und sich nach fünf Minuten erneut zu aktivieren, was den Schlafenden dazu zwang, das Bett zu verlassen, um das Biest endgültig zum Schweigen zu bringen. Aber seit er den Vertrag bei Brönner & Co. unterschrieben hatte, um fortan ein geregeltes Leben zu führen, verzichtete er darauf, den Wecker gegen die Wand zu werfen, hatte ihn zunächst noch auf die Oberfläche des Nachttischs oder an die Bettkante geschlagen, später getippt, dann nur noch getupft, und seit einigen Jahren stand Simon beim ersten Ertönen des Zirpens sofort auf und schaltete das Gerät einfach aus, er bewegte sich ohne zu murren zur Kaffeemaschine, in die er am Abend zuvor schon den Filter gesteckt, Kaffeepulver und Wasser eingefüllt hatte, sodass er jetzt nur noch den Knopf zu drücken brauchte, ehe er ins Bad ging. Danach schlich er jeden Morgen, ganz leise, da er wusste, dass seine Nachbarn noch schliefen, die Treppe hinab,
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