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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe
Autoren: Markus Orths
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Stücke, die man auch ohne kleinen Finger hinbekam. Der Wirt ein Filmfreak, und die Wände der Kneipe übersät mit Plakaten, nebenan lag das verratzte Kommunale Kino, und die Kneipe gehörte dazu. Simon durfte sich austoben, er spielte Tiomkin, Steiner, Waxman, Korngold, die Großen eben, vor allem seinen geliebten Victor Young, der ein unerschöpfliches Talent für Melodien besaß, auch Jerry Goldsmith, den Vielschreiber. Simon hörte sich selber zu, wie er über Filmmusik zu dozieren begann und vom oft zitierten obersten Credo sprach, gute Filmmusik zeichne sich dadurch aus, dass man sie nicht höre, sie müsse sich wie selbstverständlich in den Film einfügen, dürfe nie stören oder die Überhand gewinnen, müsse die Bilder begleiten, ohne in den Mittelpunkt zu treten. Lediglich der Urvater der Filmmusik, Max Steiner, hatte dieser Regel kalauernd entgegengehalten: Wozu braucht man eine Musik, wenn man sie nicht hört? Es kommt natürlich auf den Film an, war Simons Antwort: Ennio Morricones Musik steht über den Bildern, sie ist elementar, Alexandre Desplats Musik zu Syriana dagegen schmiegt sich an die Bilder wie eine Haut, und erst ohne Film merkt man, wie wunderbar sie ist.
    Abends und nachts spielte Simon im Walfisch . Sein Künstlername: Schneider. Und weil Filmmusiknoten damals noch nicht so einfach zu bekommen waren, spielte Simon viel nach Gehör, wenn auch die Melodie oft anders klang als im Film, wenn auch Newman, Salter, Friedhofer und Grusin sich gewehrt hätten gegen seine freie Interpretation ihrer Musik, Simon war das egal, er spielte so, wie er es für richtig hielt. Immer öfter schoben sich eigene Melodien in das, was Simon spielte, und irgendwann ging er dazu über, in der Kneipe zu improvisieren, zu komponieren: Beim Spielen beobachtete er die Leute und wandelte das, was er sah, in Musik, er vertonte das Lachen der Menschen, das Quatschen, das bellende Bestellen, Simon fasste immer für einige Zeit einen bestimmten Tisch ins Auge und reagierte auf das, was er sah, komponierte im Augenblick und für den Augenblick eine unerhörte Filmmusik des Alltags, das bierselige Gebrabbel, das Raunen, der Rauch, der wie ein sich stetig erneuerndes Netz in der Luft hing und das Leben lähmte, der Nebel, der den Menschen aus den Mündern kroch und alles verklebte, was sonst noch aus ihnen hätte kommen können, das Aufstehen und Zur-Toilette-Gehen, Blicke, verliebte, zornige, freudige, seine Musik fügte sich unhörbar und unmerklich in den Film ein, der sich vor ihm abspielte. Er war zufrieden, auch wenn das Geld nur leidlich reichte. Die Melodien, die ihm in der Nacht einfielen, schrieb er am nächsten Tag auf, er tat alles für seine Karriere als Komponist, kratzte sein Geld zusammen und mietete ein Studio, spielte die Stücke ein, indem er mittels Synthesizer ein Orchester imitierte, schickte seine Demobänder überallhin, doch ohne Erfolg.
    Irgendwann, Simon war etwa dreißig Jahre alt, kam es zum totalen Bruch. Das geschah, als er in der Kneipe versuchte, ein Pärchen zu vertonen, das am Tisch unmittelbar vor ihm saß. Dieses Pärchen verkörperte nicht mehr und nicht weniger als die ödeste Mittelmäßigkeit. Der Mann sah brav und bieder aus, die Frau sah brav und bieder aus, der Mann redete in gemächlichem Tempo, die Frau redete in gemächlichem Tempo, ab und zu legte einer die Hand in die des anderen, und die Hand wurde nach wenigen Sekunden zurückgezogen, der Mann trank eine Apfelsaftschorle, die Frau einen Kirsch-Bananensaft, keiner von beiden rauchte, beide schienen gestört zu sein vom Rauch. Der Mann redete ein bisschen, die Frau redete ein bisschen, ab und zu schwiegen sie, und Simon merkte, wie das Schweigen beide peinlich berührte, sodass sie in ihrem Kopf krampfhaft nach irgendeinem Themenzipfel suchten, der das mühselig vor sich hintrottende Gespräch in Gang halten könnte. Als Simon die Szene in Musik kleidete, merkte er plötzlich, dass er nichts anderes vertonte als sich selbst und verstand, dass die öde Mittelmäßigkeit, die er vor sich sah, auch in ihm steckte, dass er gescheitert und sein Leben in eine Sackgasse geraten war, dass es so nicht weitergehen konnte, nicht mehr hier, in dieser Kneipe, in der er seit Jahren hockte und Filmmusiken spielte, auf diesem abgewetzten Klavierschemel, mit dem eklen Bier, mit der glimmenden Zigarette, deren Rauch ihm in die Augen biss, nicht mehr diese Nachmittage, an denen er sinnlos Notenhefte füllte, mit Musik, die nie gespielt werden
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