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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe
Autoren: Markus Orths
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zwei, nicht mehr, versprochen, bin gleich wieder hier, ich kann den Koffer nicht mitnehmen, Simon, bitte.«
    »Schon gut«, sagte Simon und dachte gar nicht mehr an den Koffer, sondern an den Namen Carsten, den er so lange nicht mehr ausgesprochen hatte und der nun wie aus einem Kerker befreit nicht wieder zurückwollte, in der Ecke kauerte und ihn argwöhnisch beäugte, es war für Simon eine schmerzhafte Befreiung gewesen, diesen Namen auszusprechen und all das Unausgesprochene, Unsichtbare, unterm Namen Verborgene heraufzubeschwören. Gregor kehrte noch mal ins Wohnzimmer zurück. Er war plötzlich sehr ernst und sah Simon lange an.
    »Simon?«, sagte er.
    »Ja?«
    Und Gregor sagte das eine Wort: »Danke.«
    »Schon gut.«
    »Und noch was.«
    »Ja?«
    Gregor stöhnte auf und sagte: »Versuch bloß nicht, den Koffer aufzumachen!« Dann eilte er durch den Flur, und Simon hörte, wie Gregor die Tür aufschloss und zuknallte. Simon trat ans Fenster, sah, wie Gregor aus der Haustür taumelte, nach rechts und links blickte, die Straße überquerte, zu einem Fahrrad, das er dort wohl abgestellt hatte, ein Fahrrad mit Anhänger, und auf dem Anhänger jede Menge durchsichtige Kanister, die leer zu sein schienen. Gregor radelte ein Stück, ehe er von einer Limousine überholt wurde. Sie hielt etwa zehn Meter vor ihm, die hintere Tür öffnete sich, Gregor sah sich um, stieg ab, ließ Fahrrad samt Anhänger stehen, lief zur Limousine wie zu einem allerletzten Zufluchtsort, sprang hinein, schlug die Tür zu, und das Auto glitt langsam davon.

5
    V errückt, dachte Simon, komplett durchgeknallt. Es gibt keine andere Erklärung. Vielleicht ist Gregor ein reicher Mann inzwischen, den Ehrgeiz hat er immer schon gehabt, und ihm gehört jetzt eine Limousine, ein reicher Mann, der den Überblick verloren hat, über sich, über sein Leben, über alles. Simon schüttelte den Kopf. Er glaubte nichts von dem, was Gregor ihm erzählt hatte. Leichtgläubig war er nie gewesen. Er konnte nicht in die Leute hineinschauen, wenn sie ihm etwas erzählten, er hatte keine Ahnung, was wirklich in ihnen vorging, er kannte es nicht, das Verborgene. Irgendwo hatte Simon einmal gelesen, die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Wahrheit, wenn man es aus dem Griechischen übersetze, laute Unverborgenheit: Aletheia. Das Alpha sei eine verneinende Vorsilbe, und letheia bedeute Verborgenheit, also dürfe man nicht Wahrheit sagen, sondern Un-Verborgenheit, und in der Unverborgenheit stecke nicht nur vom Wort, sondern auch vom Sinn her die Verborgenheit, alles Unverborgene sei zugleich auch Verborgenes, weshalb man sagen könne, dass es so etwas wie reine Wahrheit gar nicht gebe, die Wahrheit eine Illusion, immer gekoppelt ans nicht Sichtbare.
    Simon setzte sich wieder in seinen Sessel. Für gewöhnlich hätte er nun eine oder zwei weitere Platten aufgelegt, er sah den Stapel neben sich, er hätte vielleicht Key Largo gehört oder Link, der Butler , aber er war nicht mehr in Stimmung. Nicht nach der Begegnung mit Gregor. Nicht, nachdem er selbst vor Minuten den Namen Carsten ausgesprochen hatte. Er hatte aber auch Bedenken, den Namen Carsten anzustarren, der immer noch dort hockte, im Raum, und sich dehnte und reckte und die neue Freiheit genoss. Hatte Bedenken, diesem Namen auf den Grund zu gehen, sich von ihm in die Vergangenheit stoßen zu lassen, aber irgendwas musste er tun. Also begann er zu putzen. Eigentlich hasste er das Putzen und die Tatsache, dass er nicht genügend Geld verdiente, um sich eine Putzfrau zu leisten. Daher gab er nach wenigen Minuten, in denen er die Fensterbänke seines Wohnzimmers, die Stereoanlage und die Vitrine abgewischt hatte, wieder auf, weil es ihm zu lästig wurde und weil er plötzlich wusste, was er tun wollte, während er auf Gregors Rückkehr wartete, wenn der denn überhaupt zurückkäme. Simon schob einen Stuhl vor den Wohnzimmerschrank, stieg hinauf und kramte aus dem obersten Fach die alten Noten heraus, alles, was er jemals komponiert hatte. Er setzte sich mit dem Packen ans Klavier, spielte ein paar Stücke, doch sie gefielen ihm nicht, weil die Noten nicht wirklich geboren worden waren, sich nicht in echte Musik verwandelt hatten, die von anderen Menschen jederzeit hätte angehört werden können. Er spielte dennoch, schaute ab und zu auf die Uhr, eine halbe Stunde verstrich, eine Stunde, zwei Stunden. Schließlich legte Simon den Notenstapel neben das Klavier, wie um sich von einer Last zu befreien, und dann
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