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Die Tarnkappe

Die Tarnkappe

Titel: Die Tarnkappe
Autoren: Markus Orths
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hast du auch noch vergessen!« Simon drehte sich zu seiner Frau um, aber die war verschwunden. Er hörte das Schlagen der Tür, und sofort tat ihm grenzenlos leid, dass er sich so hatte gehen lassen, ein seltenes Schauspiel, denn im Großen und Ganzen hatte er sich gut im Griff. Schon am nächsten Abend erwartete Anna ein Blumenstrauß, ein von Simon gekochtes Essen und eine umständliche Entschuldigung, die sie sofort annahm, während Simon eine Geflügelschere mit Schleife bekam: Beide hielten es nicht aus, länger als einen Tag miteinander im Streit zu liegen.
    Sie gingen viel spazieren. Verließen gemeinsam das Haus, Arm in Arm traten sie auf die Straße, bogen nach rechts ab, dann nach links, durchquerten das Viertel, in dem sie lebten, und kamen nach etwa zehn Minuten an den Waldrand, dort atmeten sie tief ein, gingen zwei Stunden, bis sie wieder in ihr Viertel zurückkehrten, immer denselben Weg, immer die gleiche vorgegebene Spur, wie an der Schnur gezogen, sie änderten ihre Gewohnheiten nicht, immer gingen sie die Hebbelstraße hinunter und bogen erst dann in die Kleiststraße ein, obwohl sie auch schon vorher die Schillerstraße hätten nehmen können, nein, immer gingen sie zuerst die Hebbelstraße hinunter und kamen so immer am Haus Numme r 44 vorbei, Hebbelstraß e 44, ein Haus, das ihnen nie aufgefallen war, weil es ein Haus wie alle anderen war. Das änderte sich schlagartig, als sie vor drei Jahren, am 27 . Mai, trotz Sturmwarnung ihren gewohnten Spaziergang nicht ausfallen ließen, sondern im Wald das Toben und Rauschen der Blätter genossen, die Gefahr fallender Äste ignorierten, nach zwei Stunden unbeschadet aus dem Wald in die Stadt zurückkehrten und wie gewöhnlich auch auf dem Rückweg in der Hebbelstraße am Haus Numme r 44 vorbeigingen. Doch an diesem Tag wurden vom alten Dach des Hause s 44 sieben lose Ziegel gefegt, von denen sechs hinter den beiden auf dem Bordstein explodierten, während der siebte mit bestechender Exaktheit, als hätte man es vorher berechnet, auf den Kopf von Anna Bloch fiel, sodass Anna auf der Stelle zusammenbrach, ohne einen einzigen Schrei, und am Unfallort starb, noch ehe die Rettung eintraf.
    Simon brauchte zwei Monate, um mit dem Rechnen aufzuhören. Er rechnete Tag und Nacht. Jede Minute wurde zerpflückt, und die Frage trieb ihn zur Verzweiflung, wie es hatte sein können, dass er und seine Frau ausgerechnet zu dieser Sekunde am Haus Numme r 44 vorbeigegangen waren. Aber die Absurdität des Zufalls wurde umso ungreifbarer, je mehr Simon rechnete. Waren es anfangs noch klar strukturierte Überlegunge n – hier eine Minute im Bad, dort ein paar Sekunden auf dem Flu r –, so musste er mit der Zeit feststellen, dass eigentlich alles hätte anders laufen können, dass eigentlich nichts in ihrem Leben hätte so geschehen müssen, wie es geschehen war, um exakt zu diesem Zeitpunkt am Haus Numme r 44 vorbeizukommen. Und als Simon einige Wochen nach dem Tod seiner Frau in irgendeinem Heft von der statistisch erwiesenen Tatsache las, dass mehr Menschen durch herabfallende Kokosnüsse als durch Hai-Attacken starben, und als er sich vorstellte, wie ein braungebrannter Urlauber unter einer Palme liegt und kopfschüttelnd die Schwimmer beobachtet, die trotz Hai-Alarms im Meer baden, aber gleichzeitig nicht merkt, wie sich knisternd eine Kokosnuss fünf Meter über ihm löst, musste Simon zugleich lachen und weinen, und er beschloss, zurückzukehren ins Leben, in die gewohnte Regelmäßigkeit. So haben wir gelebt, dachte Simon, so werde ich weiterleben. Es hätte alles anders kommen können, dachte Simon, aber dieser Satz ist komplett sinnlos, denn wenn alles hätte anders kommen können, hätte auch nichts anders kommen können, weil alles und nichts im Grunde dasselbe ist. Ich werde weiter so leben, wie wir gelebt haben, dachte Simon, ich werde alles weiter so tun, wie wir es getan haben, im Andenken an Anna. Er kehrte zu Brönner & Co. zurück mit den Worten: »Ich bin jetzt wieder belastbar!« Und Simon dachte, ehe er sich in die Arbeit stürzte: Jetzt heißt es warten, warten, warten. Warten, bis mir mein eigener Ziegel auf den Kopf fällt.

6
    G regor tauchte nicht wieder auf. Den ganzen Samstag wartete Simon. Obwohl er wusste, dass es sinnlos war. Die Türen in der Wohnung standen offen, nur die Wohnungstür selber war geschlossen, Licht brannte überall, damit Gregor, falls er zurückkam, nicht im Dunkeln nach Lichtschaltern tasten musste. Simon konnte nicht
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