Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Autoren: Sennett Richard
Vom Netzwerk:
Sinne von »Berufung« als im Sinne der beruflichen Tätigkeit. Dieser Begriff steckt voller Untertöne, die aus der Reformationszeit stammen.
    Der mittelalterliche Katholik verstand unter religiöser Berufung zum Beispiel die Entscheidung des Mönchs, sich aus der Welt zurückzuziehen. Für die anderen, die sich nicht aus der Gesellschaft zurückzogen, trat das Moment der Entscheidung nicht so deutlich ins Blickfeld. Der Glaube war ein als natürlich und selbstverständlich empfundenes Verhalten, das eher dem Verhalten der Bienen ähnelte, auch wenn es nicht auf einer genetischen, sondern einer kulturellen Programmierung beruhte. Luthers Theologie brachte hier eine Veränderung. An Erfahrungen der frühen Christenheit und insbesondere an die persönlichen Glaubenskämpfe des hl. Augustinus anknüpfend, beschrieb Luther den Glauben als eine aktive innere Entscheidung, eine »Entscheidung für Christus«, die der Gläubige sein Leben lang immer wieder aufs Neue zu treffen hat. Das protestantische Trauma liegt in dem Wissen um das, was man in der Welt mit sich selbst anzufangen hatte. Judentum, Islam und Katholizismus liefern Lebensentwürfe, die außerhalb des Ichs liegen. Der Protestantismus Luther’scher Prägung bot keinen so klar umrissenen Entwurf, sondern betonte stärker das Ich.
    Unter Berufung kann man etwas recht Einfaches verstehen, eine Art persönlicher strategischer Planung. Wenn Managementgurus wie John Kotter aufmunternde Vorträge über Motivation halten, sprechen sie von »Strategien der Lebensführung« – und entfernen damit hygienisch die schmerzvolle protestantische Erfahrung, dass man Sinn und Ziel des eigenen Lebens eben nicht genau kennt. 18 Die Suche nach dem Sinn des Lebens wird in einem tieferen Sinne zu einer Art Selbstkritik. Ein Rohstoffhändler von der Wall Street, der Lehrer geworden war, sagte mir einmal: »Ich glaube, es war mir bestimmt, etwas anderes zu tun.« Diese Beobachtung könnte auch für Aufsteiger in Cabrini Green gelten. Es war ihnen bestimmt, etwas anderes mit ihrem Leben anzufangen, als in Armut zu verharren. Aber besitzen wir tatsächlich einen inneren Kern, der darauf wartet, durch unser Tun verwirklicht zu werden? Besteht dieses Ich wirklich allein aus Überzeugungen? Für alle meine Freunde aus Kindertagen besaßen religiöse Überzeugungen tatsächlich große Bedeutung, auch wenn diese Überzeugungen sich nicht buchstäblich in Leitlinien für das alltägliche Handeln übersetzen ließen.
    Max Weber untersuchte Berufungen anspruchsvollerer Art – anspruchsvoller im politischen Sinne. In seinem Vortrag »Politik als Beruf« konzentrierte er sich auf die »Gesinnungsethik«. Diese »Ethik« vermag das von der protestantischen Ethik aufgeworfene Rätsel des Ich zu lösen, wenn die Ausübung von Herrschaft über andere zum persönlichen Lebensziel wird. In Teilen ist diese Idee nicht originell, denn auch Schopenhauer und Nietzsche glaubten, die Ausübung von Macht könne das Ich heilen. Weber legte den Schwerpunkt jedoch eindeutiger auf Politiker, die wirklich an etwas glauben, auf Politiker, die das Gegenteil des machiavellistischen Intriganten darstellen und glauben, was sie predigen. Weber fürchtete solche engagierten Politiker, weil sie andere gerne zwingen, jener Gesinnung zu gehorchen, die ihnen selbst aus ihren inneren Zweifeln geholfen haben. Im ersten Kapitel haben wir ein konkretes Beispiel dafür angesprochen: die Solidaritätsbekundungen an den Wänden des musée social auf der Pariser Weltausstellung. »Solidarität« war für Weber ein Deckmantel für den Prozess, in dem man den eigenen Willen läutert, die eigenen Gewissheiten stärkt und so innere Zweifel abwehrt. In Webers Augen kann »Gesinnungsethik« Unterschiede nur ausschließen oder bestrafen. Werden abweichende Meinungen zugelassen, brechen die Überzeugungen zusammen.
    Wie steht es dann um die Alternative zur Gesinnungsethik? Solch eine Alternative wurde 1900 in Paris gleichfalls ausgestellt, und zwar in den Dokumenten zu den Nachbarschaftsheimen, den kommunalen Vereinigungen und den Werkstätten. Den Organisatoren dieser Gruppen fehlte es gewiss nicht an Überzeugungen und an Engagement, aber sie besaßen eine andere Art von Berufung. Die Gemeinschaft selbst war zu einem »Beruf« geworden, zu einer Berufung, in der Kooperation zu einem eigenständigen Ziel avancierte, durch das die Menschen, die in der Gemeinschaft lebten und arbeiteten, ihre Erfüllung fanden. Meine Nachbarn aus meiner
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher