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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Autoren: Sennett Richard
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Kinder das Gefühl haben dazuzugehören. Ein junger Mensch, der auf der Stufenleiter der Gang aufsteigt, entwickelt dadurch noch stärkere Bindungen zu seinen Altersgenossen. 14 Sozialarbeiter, die sich bemühen, junge Menschen aus den Gangs herauszuholen, laufen dagegen Gefahr, Anomie zu schaffen, zumindest in Vierteln wie Cabrini Green, denn die alternative institutionelle Kultur, die sie zu entwickeln versuchen, ist relativ schwach.
    Im weitesten Sinne könnte man sagen, Anomie und Trauer seien die beiden Seiten der Moral: Distanz und mangelnde Bindung auf der einen Seite, neue Bindung auf der anderen. Diese zweiseitige Medaille unterscheidet sich von einem Denken, das um den Begriff der Solidarität kreist, und ist komplexer als diese Vorstellung. Und innerhalb des Begriffspaars kann man sagen, dass Trauer emotional komplexer ist als Anomie. Bei der Trauer spielt die Zeit eine Rolle. Im Trauerprozess findet man einen Weg, mit der neuen Situation umzugehen. Das Trauern hebt die Moral auf andere Weise als die bloße Aussicht dazuzugehören. Doch ob die Moral nun durch das Vergehen von Zeit oder durch die bloße Zugehörigkeit zu einer vertrauten Gruppe gehoben wird, in jedem Fall hat sie ihre Grenzen. Es kommt der Augenblick, da man entscheiden muss, ob die Institution es wert ist, dass man sich an sie bindet. So führt Trauer unter anderem dazu, dass die Frage sich in schärferer Form stellt und die Menschen sich von neuem überlegen, wie sie leben möchten. Dank der Forschungen von Elijah Anderson und Mitchell Duneier wie auch der Arbeiten von Sudhir Venkatesh wissen wir, dass viele junge Gangmitglieder sich Mitte zwanzig tatsächlich zu fragen beginnen, ob sie so leben wollen. 15 Auf diese Frage müssen alle Menschen eine Antwort finden, und diese Antwort kann sich klären, wenn man das Engagement einem Test unterzieht.

Tests für Engagement

    Engagement lässt sich auf sehr direkte Weise testen, indem man fragt: »Wie viel bist du bereit dafür zu opfern?« In dem im zweiten Kapitel vorgestellten Spektrum sozialer Austauschprozesse repräsentiert der Altruismus das stärkste Engagement – Jeanne d’Arc, die für ihre Überzeugungen auf dem Scheiterhaufen endet, oder der einfache Soldat, der in der Schlacht stirbt, um seine Kameraden zu schützen. Am anderen Ende des Spektrums, bei Spitzenprädatoren wie Alligatoren oder Bankern, ist solche Opferbereitschaft nicht zu finden, so dass der Test sich hier erübrigt. Im mittleren Bereich des Spektrums ist Engagement mit einem jeweils unterschiedlichen Maß an Opfern verbunden. Der Win-Win -Austausch eines Geschäftsabschlusses verlangt von allen Beteiligten, einen Teil ihrer Interessen aufzugeben, damit der Abschluss sich für alle lohnt. Politische Koalitionen bedürfen einer ähnlichen Kalibrierung. Der differenzierende Austausch, die erhellende Begegnung, erfordert keine Opfer. Dort ist es aber auch nicht nötig, andere zu übertreffen und von ihnen zu verlangen, etwas aufzugeben.
    Ein brutaler Test des Engagements kam in den 1960er Jahren in Vierteln wie Cabrini Green auf. Das war die Zeit, als die schwarze Mittelschicht zu wachsen begann. Sollten die Menschen, die einen sozialen Aufstieg erlebten, in den Vierteln bleiben, in denen sie aufgewachsen waren? Fast ein Jahrhundert zuvor hatte Booker T. Washington sich vorgestellt, die durch die Institute sozial aufgestiegenen Handwerker würden nach Hause zurückkehren und dort das Los der übrigen verbessern. Doch nun handelte es sich um ein Nullsummenspiel, und es war ein wirkliches Opfer, wenn der Aufsteiger in seiner alten Umgebung blieb, denn in den 1960er Jahren verschärfte sich die soziale Desorganisation in den armen schwarzen Vierteln, als der Drogenhandel Einzug ins Ghetto hielt, die Zahl der jugendlichen alleinstehenden Mütter zunahm und die staatlichen Bemühungen um eine Verbesserung des Lebensstandards scheiterten. Hatten die Aufsteiger die Pflicht, sich selbst auf diesem Altar zu opfern? Nur Privilegierten fällt es leicht, diese Frage zu beantworten.
    Engagement lässt sich auch noch auf eine andere Weise messen, nämlich im Blick auf die zeitliche Perspektive. Im fünften Kapitel haben wir kurzfristig orientierte Teamarbeit in einigen Wall-Street-Firmen mit dem chinesischen guanxi verglichen, das auf langfristige Verbindungen ausgerichtet ist. Die kurzfristige Ausrichtung schwächt das Engagement zwischen den verschiedenen Ebenen einer Organisation, während guanxi es außerhalb von Institutionen
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