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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Autoren: Sennett Richard
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einer Hinsicht ist Durkheims Verständnis der Moral ganz einfach: Eine starke Bindung an Institutionen stärkt die Moral, eine schwache Bindung lässt sie erodieren. Nach diesem Muster hätte er auch das Verhalten der Bankangestellten an der Wall Street erklärt. Trotz einer hohen Motivation, gute Arbeit zu leisten, war ihre Moral niedrig, weil der Arbeitsplatz kaum die Entwicklung von Loyalität zuließ. Für Durkheim war eine »Institution« mehr als eine formale, bürokratische Struktur. Institutionen wie die Armee oder eine staatliche Behörde verkörpern Traditionen und wechselseitiges Verständnis, Rituale und Formen höflichen Umgangs, die sich nicht mit einem Organisationsdiagramm erfassen lassen. Durkheim verdanken wir den Gedanken, dass auch Institutionen eine Kultur haben. Diese Kultur kann mangelnde Bindung zu einer demoralisierenden Erfahrung machen.
    Eine der erstaunlichsten Passagen in Durkheims berühmter Studie über den Selbstmord befasst sich mit dem Schicksal »getriebener Menschen«, die eigentlich Erfolg haben. Durkheim fand heraus, dass die Selbstmordrate bei solchen Aufsteigern fast ebenso hoch war wie bei Menschen, die vom Glück verlassen in den Strudel des Abstiegs gerieten. 13 Er dachte über diese statistischen Daten nach und gelangte zu einer allgemeineren Erklärung. Aufsteiger fühlen sich oft haltlos und wissen nicht recht, was sie mit dem neu erworbenen Reichtum oder ihrer neuen Macht anfangen sollen, weil die Kulturen der betreffenden Institutionen nicht zulassen, dass sie das Gefühl haben, dazuzugehören. Juden, die in Frankreich einen sozialen Aufstieg erlebten, waren für Durkheim, selbst Jude, ein Prüfstein für seine Thesen. Die französische Armee nahm Hauptmann Alfred Dreyfus zwar auf, ließ aber auch schon vor seinem Ausschluss während der berüchtigten Dreyfus-Affäre nicht zu, dass er sich als »einer von uns« fühlen konnte. Ähnliches galt für die höheren Ränge in der Staatsverwaltung. Obwohl die Juden seit den Zeiten Napoleons gleichberechtigt waren, wurden hohe jüdische Beamte selbst um 1900 noch als Außenseiter behandelt. Auch erfolgreiche Geschäftsleute konnten sich ihren gesellschaftlichen Aufstieg nicht mit Geld allein erkaufen. So rühmte sich der Jockey-Club de Paris, der elitärste Club der Pariser Gesellschaft, der bei Charles Haas (dem Vorbild für Prousts Charles Swann) eine Ausnahme machte, jüdische Bewerber über Jahre oder gar Jahrzehnte zappeln zu lassen.
    Durkheim verallgemeinerte diese Erklärung zu dem Gedanken, dass Menschen, die aus Institutionen ferngehalten werden, ob es sich nun um sozial aufsteigende Juden handelte oder, weiter unten auf der sozialen Stufenleiter, um Arbeiter, die bei ihren Meistern kein Gehör fanden, also um Menschen, die ausgeschlossen und nicht anerkannt werden, unter Anomie leiden – Durkheims Bezeichnung für geringe Moral. Anomie ist ein Gefühl der Entwurzelung und Haltlosigkeit. Mit diesem Anomiebegriff versuchte Durkheim, die Folgen sozialen Ausschlusses tiefer zu erfassen. Die Menschen können die Ausschließung verinnerlichen und das Gefühl haben, sie reichten tatsächlich nicht an andere heran, so dass der Ausschluss berechtigt sei. Diese Verkehrung zeigt sich bei jenen Aufsteigern, die das Gefühl haben, den anderen in ihrer neuen Lebenssituation etwas vorzumachen. In der amerikanischen Literatur leidet Jay Gatsby in Fitzgeralds Roman unter Anomie dieser Art. Durkheim hielt diese Form verinnerlichter Haltlosigkeit für sehr weit verbreitet. Die Kultur der Institutionen hat Sie beurteilt, und Sie passen einfach nicht dazu. Der Selbstmord, dieser extreme Ausdruck von Verzweiflung, bot Durkheim die Möglichkeit, einen Blick auf gewöhnlichere Formen mangelnder Bindung zu werfen, die das Individuum in Gestalt von Selbstzweifeln verinnerlicht.
    Bei Armen wie denen in Cabrini Green kann das Gangleben eine – durchaus effektive – Lösung für das Problem der Anomie darstellen. Der Soziologe Sudhir Venkatesh, der das Gangleben in Chicago eingehend untersucht hat, zeigt, dass die Gangs Kindern und Jugendlichen das Gefühl vermitteln, sie seien erwünscht und gehörten dazu. Die Gangs, die heute mit Drogen handeln und den Kindern auf kurze Sicht so große Vorteile bieten, lösen auch das Problem der mit dem Aufstieg verbundenen Anomie, dem Durkheim in einem anderen Jahrhundert und einer sehr viel höheren sozialen Schicht nachging. Sie sorgen durch elaborierte Initiations- und Aufstiegsrituale dafür, dass die
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