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Am Seidenen Faden

Titel: Am Seidenen Faden
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    Wieder ist eine Frau verschwunden.
    Sie heißt Millie Potton und wurde das letzte Mal vor zwei Tagen gesehen. Der Zeitung zufolge ist Millie groß und schlank und hinkt etwas. Sie ist vierundfünfzig Jahre alt, was nicht überrascht. Nur Frauen über fünfzig haben heutzutage noch Namen wie Millie.
    In dem kurzen Bericht auf Seite drei des Lokalteils der Palm Beach Post heißt es, daß sie zuletzt gesehen wurde, als sie im Bademantel die Straße hinunterging. Die Nachbarin, die sie gesehen hat, fand daran offenbar nichts Besonderes. Millie Potton, heißt es weiter, leide seit langem an Zuständen geistiger Verwirrung, was wohl bedeuten soll, daß diese Zustände an ihrem Verschwinden schuld sind und wir uns deshalb nicht weiter Gedanken darüber machen müssen.
    Mehr als zwei Dutzend Frauen sind in den letzten fünf Jahren in der Gegend von Palm Beach verschwunden. Ich weiß es, weil ich die Fälle verfolgt habe, nicht bewußt zunächst, aber als sie sich allmählich zu häufen begannen, setzte sich eine ungefähre Zahl in meinem Bewußtsein fest. Die Frauen sind zwischen sechzehn und sechzig Jahre alt. Einige hat die Polizei als Ausreißerinnen abgetan, vor allem die jungen Mädchen wie Amy Lokash, siebzehn Jahre alt, die eines Abends um zehn bei einer Freundin wegging und danach nie wieder gesehen wurde. Andere Fälle, und zweifellos wird der Millie Pottons zu ihnen zählen, hat man aus diversen unbestreitbar logischen Gründen ad acta gelegt, obwohl die Polizei sich bei Amy Lokash getäuscht hatte.
    Aber solange nicht irgendwo eine Leiche gefunden wird, in einem Müllcontainer hinter dem Burger King Restaurant wie die von Marilyn Greenwood, 24, oder mit dem Gesicht nach oben in einem Sumpf bei Port Everglades treibend wie Christine
McDermott, 33, kann die Polizei im Grunde nichts tun. Behauptet sie jedenfalls. Frauen, so scheint es, verschwinden einfach immer wieder.
    Es ist still im Haus heute morgen. Alle sind weg. Ich habe viel Zeit, meinen Bericht auf Band aufzuzeichnen. Ich nenne es einen Bericht, aber eigentlich ist es nichts so klar Definiertes. Es ist eher eine lose Folge von Erinnerungen, wenn auch die Polizei mich gebeten hat, so präzise und systematisch wie möglich vorzugehen, darauf zu achten, daß ich nichts auslasse, ganz gleich, wie unbedeutend – oder wie persönlich – es mir erscheinen mag. Sie werden entscheiden, was wichtig ist und was nicht, haben sie mir erklärt.
    Ich weiß nicht recht, was das Ganze für einen Sinn haben soll. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich kann das Rad nicht zurückdrehen und den Lauf der Dinge verändern, so sehr ich mir das wünschte. Ich habe versucht einzugreifen, solange es noch möglich schien, aber ich habe gegen Windmühlenflügel gekämpft. Ich wußte es damals schon. Ich weiß es heute. Es gibt nun mal Dinge, über die wir keine Macht haben – das beste Beispiel dafür ist das Verhalten anderer. So wenig es uns gefällt, wir müssen die anderen ihren eigenen Weg gehen, ihre eigenen Fehler machen lassen, auch wenn wir das heraufziehende Verhängnis schon in aller Klarheit sehen. Sage ich nicht genau das stets meinen Klienten?
    Es ist natürlich viel einfacher, gute Ratschläge zu geben, als sie selbst zu befolgen. Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb ich Familientherapeutin geworden bin, obwohl es gewiß nicht der Grund war, mit dem ich mich damals um die Aufnahme ins College bewarb. Ich schilderte vielmehr, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich läßt, was es leider mit zunehmender Häufigkeit tut, meinen intensiven Wunsch, anderen zu helfen, meinen Ruf unter Freunden, ein Mensch zu sein, dem man sich stets mit all seinen Schwierigkeiten anvertrauen könne, meine persönlichen Erfahrungen mit einem dysfunktionalen Familiensystem, obwohl es das Wort dysfunktional zu der Zeit, als ich 1966 mein Studium aufnahm, noch gar nicht gab. Heute ist es so geläufig, so
sehr Teil der Alltagssprache, daß schwer vorstellbar ist, wie wir so lange ohne es auskommen konnten, obwohl es ja im wesentlichen gar nichts sagt. Was ist denn letztlich Dysfunktion? Welche Familie hat keine Probleme? Ich bin sicher, meine eigenen Töchter könnten Ihnen da einiges erzählen.
    Also, wo soll ich anfangen? Das fragen meine Klienten immer, wenn sie das erstemal zu mir kommen. Mit argwöhnischen Blicken treten sie in meine Praxis, die sich in der zweiten Etage eines vierstöckigen pillenrosa Gebäudes am Royal Palm Way befindet, lassen sich an ihrem Ehering drehend
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