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Dunkler Tod: Louise Boní und der Fall Calambert (German Edition)

Dunkler Tod: Louise Boní und der Fall Calambert (German Edition)

Titel: Dunkler Tod: Louise Boní und der Fall Calambert (German Edition)
Autoren: Oliver Bottini
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    Annetta war vierzehn, als sie verschwand. Ein wildes, vor Energie strotzendes Mädchen, noch zu viel Kind und schon zu viel Frau für einen Körper und eine Seele. Sie platzte vor Widersprüchen und widersprach, wo es sich nur einrichten ließ. Wie die Flagge ihres eigenen kleinen Landes trug sie vor sich her, was sie dachte und was sie wollte und wen sie mochte und wen nicht, die Wahrheit war ihre einzige Freundin. Niemand folgte ihr in unmittelbarer Nähe, man hielt Abstand.
    »Sie ist schwierig«, sagte ihre Mutter.
    »Nie kann sie die Klappe halten«, sagte ihr Vater.
    Louise Bonì sah vom einen zum anderen, sie wusste, welche Gedanken den beiden durch den Kopf jagten und sie vor Scham atemlos machten: einmal zu oft die Wahrheit ausgesprochen, den Falschen provoziert, schon wieder macht das Kind Ärger.
    Sie saßen in ihrem Büro, Polizeidirektion Freiburg, Etage Kapitalverbrechen, zum dritten Mal, seit das wilde Mädchen verschwunden war. Vom Fenster aus sah man an guten Tagen die Vogesen, an verschneiten wie dem heutigen kaum die alten Postgebäude gegenüber.
    »Finden Sie das Schwein?«, fragte der Vater. Er war klein und drall und aus verschiedenen Gründen wichtig. Sein grauer Dreiteiler raschelte unterkühlt und duftete nach den Fingern irgendeines weltberühmten Couturiers. Ihr Blick glitt über perfekte Nähte, erhabene Falten. Seine Wangen glänzten von Schweiß. Ein entführtes Kind, das brachte vieles durcheinander, womöglich das ganze restliche Leben. Aber die rechte Hand hielt den linken Zeigefinger auf eine so verzweifelte Weise umklammert, dass man auch in diesem Mann etwas Gutes und Schwaches erahnte.
    »Ja.« Was sie nicht sagte: Die Täter fanden sie in aller Regel. Die Opfer kehrten nicht immer zurück.
    Annettas Mutter, noch kleiner als ihr Mann, dafür sehnig und schlank, murmelte: »Wir haben Schwierigkeiten mit ihr.«
    Louise nickte. Von Nachbarn, Lehrern, Freunden wusste sie von diesen Schwierigkeiten. Viele hielten es für möglich, dass Annetta genug gehabt hatte und ihr Leben fortan ohne ihre Eltern zu führen gedachte.
    »Aber sie wäre nicht einfach mit einem Mann weggelaufen«, sagte die Mutter.
    »Einfach weglaufen ist feige«, sagte der Vater. »Unsere Tocher ist vieles, aber nicht feige.«
    »Sie hätte uns damit konfrontiert.«
    »›Papa, Mama, ich gehe weg‹, hätte sie gesagt.« Der Vater lächelte mürbe. Ein Hauch von Bewunderung lag in seiner Stimme.
    Louise ahnte, dass die Eltern recht hatten. Mädchen wie Annetta liefen nicht heimlich weg, sie suchten den Kampf. Sie schaute auf ihre Gesprächsnotizen und begriff plötzlich, weshalb ihr dieser Fall so naheging. Die Eltern hatten die eigene Tochter und doch auch sie beschrieben, Louise Bonì, einundvierzig Jahre alt, Hauptkommissarin der Kripo Freiburg, auf einer Reise ins Nirgendwo.
    Die sicherheitsbezogenen Veränderungen nach dem 11.   September saßen allen noch in den Knochen, der Schnee und die Müdigkeit taten ein Übriges. Rolf Bermann, der Leiter des Dezernats, hatte die Sonderkommission »Annetta« immer weiter aufgestockt, trotzdem bekam keiner der Ermittler ausreichend Schlaf. Waren sie draußen unterwegs, stach der Schnee grell in den Augen, und wenn das Licht aus dem kurzen Wintertag verschwunden war, bewegten sie sich durch scheinbar immerwährende Dunkelheit, um die Dutzende, Hunderte Hinweise aus der Bevölkerung zu überprüfen.
    »Hältst du durch?«, fragte Bermann, Schnauzbart und Chauvi, der vorerst Letzte seiner Art in Freiburg.
    »Natürlich«, erwiderte Louise.
    »Vielleicht hilft so ein Fall. Lenkt ab. Man verbringt weniger Zeit zu Hause.«
    Sie runzelte die Stirn. »Wer war die Blonde, die dich neulich abgeholt hat? Eine Cousine deiner Frau?«
    »Alkohol ist keine Lösung«, sagte Bermann.
    »Außerehelicher Sex auch nicht.«
    Er lachte.
    Nein, Alkohol war keine Lösung, lediglich eine Art Putzmittel. War da noch ein Fleck Mick auf dem Teppichboden im Schlafzimmer? Alkohol drüber, weg war der Fleck. Es gab nach einem knappen Jahr noch allzu viele Flecke und Reste Mick in der Wohnung. Auf den Böden, an den Wänden, die in den Spiegeln waren besonders hartnäckig und die in den Gerüchen besonders schmerzhaft. Es ging gerade nicht ohne Putzmittel, vier Wochen vor dem Termin.
    »Du solltest umziehen«, hatte Bermann im Sommer gesagt.
    Und woher nehme ich die Kraft, Arschloch?
    Dann kam der Schnee. Gnadenlos offenbarte das triste Winterlicht Fleck um Fleck und all die Reste, die ein falscher
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